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STERBEN ABER HEISST LEBEN

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Not hat manches Menschengesicht gezeichnet, lebendige wie künstlerisch gestaltete. Verzerrt oder versteinert, stumm oder wild, resigniert, ergeben oder fragend nach dem Leid und seinem Sinn schauen sie uns an. Kein Künstler kann an diesen Gesichtern vorbeigehen, wie er nicht das Leid ignorieren kann, das wesentlich zum Leben gehört. Will er das Leben gestalten, muß er auch den Tod sehen, den Tod und das Leid.

„Leben heißt Leiden, Leiden heißt Sterben, Sterben aber heißt Leben in Ewigkeit“ — Unter diesem Motto bringt das Graphische Kabinett des Stiftes Göttweig seit einigen Monaten 160 Blätter aus seinen Beständen zur Ausstellung. Das Göttweiiger Graphische Kabinett ist die größte private Graphiksammlung Österreichs, eine der reichhaltigsten der Welt. Alljährlich werden seine wertvollen Bestände, die Emmeran Ritter OSB betreut, in Ausstellungen, die einen bedeutenden Künstler, einen Zeitabschnitt oder ein bestimmtes Thema zum Inhalt haben, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die derzeitige neunte Ausstellung über die Darstellung des Leides in der graphischen Kunst von 1550 bis 1800 bleibt bis in die ersten Novembertage geöffnet. Es ist die erste graphische Exposition in Österreich, ja wahrscheinlich überhaupt, die sich mit diesem kunstwissenschaftlich und kulturgeschichtlich so interessanten Thema beschäftigt.

In den verschiedenen Techniken der Graphik, als Kupferstich, Radierung oder Schabblatt, sind Darstellungen zu diesem Thema von niederländischen, französischen, italieni-chen und deutschen Künstlern in seltenen, oft unbekann-

ten Blättern gesammelt. Die zeitliche Eingrenzung — 1550 bis 1800 — soll dahingehend verstanden werden, daß der Manierismus — ein Stilbegriff, der für die Graphik wie für die Malerei in gleicher Weise gilt — als typisches Zeichen der Umbruchszeit im Gegensatz zur mittelalterlichen Auffassung

einen neuen Ausdruck des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses geprägt hat.

Hatte sich der Mensch des Mittelalters selbstverständlich und fraglos in der christlichen Heilsordnung geborgen gefühlt, so weicht im geistigen und politischen Umbruch des 16. Jahrhunderts diese Lebenssicherheit einer reflektierenden, ja angstvollen Haltung der Welt gegenüber. Mit Descartes stellt sich der Mensch in den Mittelpunkt des Denkens, stellt sich selbst und sein dunkles Schicksal in Frage. Auch in der Kunst bricht die Zeit des Fragens an: Die Bilder des menschlichen Leids sind nicht mehr referierend in der Art der Dokumentation, sondern fragen nach dem „Warum“.

In allen Variationen gestalten die Künstler dieser Zeit menschliches Kämpfen und Leiden und versuchen seinen Sinn zu ergründen. Völkersterben in Schlachten und Kriegen (in Stichen von Tempesta, de Mol, della Bella vertreten), der Bethlehemitische Kindermord (auf Blättern von Pontius, Coornhert, de Bruyn) und unverschuldetes Elend (Bettlerszenen von Dumont, Walch, Quast, Hafner) sind beliebte Themen der Zeit und füllen eine ganze Reihe der ausgestellten Blätter. Mit Stichen und Radierungen, die den Engelssturz (Lajage, Tempesta), den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies (besonders wertvolle Stiche von Johannes Stadeler zu diesem Thema) darstellen, wird der Grund des menschlichen Leids berührt, mit den Kreuzigungsbildern von Fontana und Von Dyck seine Überwindung.

Künstlerisch wie thematisch an hervorragender Stelle ist „Die große Kreuzabnahme“ von Rembrandt, dem Meister der Radierung, zu nennen. Unter Mithilfe seiner Schüler schuf der Künstler diese grandiose Komposition (518 mal 405 mm) 1633 für Amsterdams Statthalter Frederik Hendrik. Man muß sich die Kupferstecher und Radierer bei ihrer Arbeit vorstellen, um diese gewaltige Leistung zu würdigen und dem Geheimnis der Ausstrahlungskraft ihrer Blätter auf die Spur zu kommen. Mit Stichel, Griffel und Nadel wird die Zeichnung in die blanke Kupferplatte gestochen, in eng- oder weitmaschigem Liniengeflecht, hart oder weich, mit mehr oder weniger Druck. Der Radierer setzt seine Platte dann chemischen Säuren aus, die in verschiedenen Phasen und Stufen die Stiche und Striche einätzen, um auf dem Abzug die subtilsten Schwarzweiß- und Schattenwirkungen zu erzielen. „Die Radierungen sind voller Leben“, sagt Emil Nolde, ein Künstler unseres Jahrhunderts, der fasziniert von den unerwarteten Wirkungen der Säure auf dem Metall war, „ein Rausch, ein Tanz, ein Wiegen und Wogen.“

Oft versuchte Rembrandt an derselben Platte durch Verfeinerung der Linien, durch Bearbeitung mit anderen Werkzeugen, durch Zusatz neuer Säuren die Bildwirkung auf dem Abzug zu verändern, zu verbessern, seiner Idealvorstellung anzunähern. Dieses Weiterforschen und Experimentieren mit den Materialien, das Abenteuer des Suchens und Findens neuer Möglichkeiten und der ungeduldig erwartete und gefürchtete Augenblick des ersten Abdrucks schlägt Künstler seit der Erfindung der graphischen Kunst im 15. Jahrhundert bis in unsere Tage immer wieder in seinen Bann. Eine Reihe von Drucken derselben Platte in verschiedenen Zuständen, wie sie von Rembrandts meisterhafter „Großen Kreuzigung“ existieren, lassen diesen faszinierenden Prozeß miterleben.

Gesicht des Menschen in Angst und Not. Unbekannter Meiste um 1790

Die Graphik, seit ihrer Entstehungszeit als Vervdelfälti-gungs- und Kopiertechnik ebenso wie als eigenständiger Kunstzweig gepflegt und verbreitet, verschreibt sich im 16. und 17. Jahrhundert vor allem der Aufgabe, dem unsicheren, angstvoll fragenden Menschen der Umbruchszeit Wegweiser auf seiner Suche nach einem neuen Weltverhalten zu sein, Antwort auf die mächtig aufbrechenden Fragen dieser unruhigen Zeit zu geben. Die graphischen Darstellungen wirken aus diesem Grund oft moralisierend und belehrend. Die manieristische Stichkunst hat auf dem Gebiet der moralischen Aufklärung — im weitesten Sinn des Wortes — Beachtliches geleistet.

Was Rembrandt allein durch die Komposition seiner „Kreuzabnahme“, durch den schrägen Lichtstrahl, der den Blick auf das Kreuz zwingt, in künstlerisch vollendeter Form zum Ausdruck bringen kann, muß die „Gebrauchsgraphik“ der Zeit — zwar in handwerklicher und technischer Fertigkeit, jedoch künstlerisch auf niedrigerem Niveau — in Lehr-bildern und Denksprüchen direkt sagen:

Die „Memento-Mori“-Bilder mit ihrer Blicknichtung auf das jenseitige Leben, wo alles Menschenleid ein Ende haben wird, mit ihrem Hinweis auf die Überwindung des Leids durch den Tod Christi am Kreuz und mit ihrem Aufruf zu gottesfürchtigem Lebenswandel waren äußerst beliebte und verbreitete Kauf- und Geschenkartikel dieser Zeit. Das Neujahrswidmungsblatt des Zürcher Malers und Radierers Conrad Meyer — von M. Merian als „Muster von Sittlichkeit und Gottesfurcht“ bezeichnet — aus dem Jahr 1667, das die Göttweiger Ausstellung besitzt und zeigt, ist in seiner Darstellung mit Stundenglas, Totenschädel und vergänglicher Rose und in den beigefügten Merkversen ein typisches Beispiel für diesen Zweig der graphischen Kunst, der Antworten auf die Fragen des Menschen seiner Zeit nach dem Sinn von Leid und Tod anbietet:

Der Tod ist gewiß; ungewiß die Zeit: darum, o Mensch, dich vorbereit, daß er dich führ ins Freudenreich, nicht aber in den Schwäfelteich:

Daß Ewigkeit erfolg ohn Klag, die Büß ergreif und nicht verzag, weil Christi Tod dein Leben ist, wann du vom Tod getroffen bist.

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