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LEBENDIGE TRADITION

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TV/ie in den meisten anderen europäischen Ländern nahm W auch in England das Theater seinen Ausgang von der Kirche. Solange der Großteil der Bevölkerung nicht lesen konnte, mußte das Bibelwort mündlich verkündigt und veranschaulicht werden, und so entstanden im Mittelalter die verschiedenen Formen des Mysterienspiels. Diese stellten jeweils Szenen aus der Bibel dar und wurden in Straßen, auf Plätzen und natürlich auch in den Kirchen aufgeführt. Einige dieser Mysterienspiele haben die Jahrhunderte überdauert und werden auch jetzt noch aufgeführt, so beispielsweise die Mysterienspiele von York, die alle drei Jahre, im Rahmen des York Festival, in einem Freilichttheater, das auf dem Grund eines ehemaligen Klosters gebaut wurde, aufgeführt werden.

Die Werke einiger großer Schriftsteller führten in der Zeit der Königin Elisabeth I. zu einem grandiosen Aufschwung des englischen Theaters. Erwähnt seien nur Marlowe, Lyly, Kyd, Greene, die jedoch alle überschattet wurden von dem genialen Schüler einer Lateinschule in den englischen Mid-lands — William Shakespeare aus Stratford-on-Avon.

Sein Werk übte einen bleibenden Einfluß auf das englische Theater aus und schuf eine Schauspieltradition, die sich über die Jahrhunderte erhalten hat. Obwohl der Stil der schauspielerischen Darstellung fast mit jeder Generation wechselt, hat doch auch heutzutage kein Schauspieler seinen Höhepunkt erreicht, wenn er nicht Shakespeare gespielt hat, und nur bei Shakespeare haben die Schauspieler so großartige Möglichkeiten, ihre Kunst zur Vollendung zu führen. Sicherlich ist die Tatsache, daß England immer wieder namhafte Schauspieler hervorbrachte, von Richard Burbage, David Garricr> und Henry Irving bis zu Sir Laurence Olivier, John Gielgud, Michael Redgrave und Sir Ralph Richardson, um nur einige zu nennen, auf das engste mit der Shakespeare-Tradition verknüpft.

Ein weiterer Faktor, der die englische Theatertradition maßgeblich mitgeformt hat, war die „Comedy of Manners“, die Sittenkomödie, die im 17. Jahrhundert, vor allem während der Regierung Karls II., sehr beliebt war. Es handelte sich hier um recht oberflächliche Lustspiele, deren Darstellung wohl kaum Tiefe und Dramatik, desto mehr jedoch gute Manieren, Stilgefühl und vor allem gepflegte Sprache verlangte. Bekannte Bühnenautoren jener Zeit waren etwa Congreve, Dryden, Wycherley, Vanbrugh und Farquhar. Manche ihrer Stücke, wie etwa „The Way of the World“ (etwa „Der Lauf der Welt“) und „The Country Wife“ (vielleicht mit „Die Ehefrau vom Lande“ zu übersetzen) sind auch heute noch beliebt. Der Schriftsteller Farquhar wurde zu seiner Zeit angegriffen, weil man ihm vorwarf, eine moralisierende Note in ein seiner Natur nach unmoralisches Kunstmedium eingeführt und die „Comedy of“ Manners“ damit zum Aussterben verurteilt zu haben. Seine Stücke leiteten im 18. Jahrhundert zu Sheridan und Goldsmith über, die in ihre Stücke mehr Sentimalität injizierten. Auch ihren Stücken gelang es, sich bis in die Gegenwart in den Theaterprogrammen zu halten; am beliebtesten sind „The School of Scandal“ („Die Lästerschule“) und „She Stoops to Conquer“ (etwa: „Sie erniedrigt sich, um zu siegen“). Eine Neuinszenierung von „The School of Scandal“ unter John Gielgud mit einer Starbesetzung, lief mehrere Monate in London und wird nun auch in New York anlaufen.

Das 19. Jahrhundert brachte in England mehr gute Schauspieler als Bühnenautoren hervor. Henry Irving feierte seine größten Triumphe in den Stücken Shakespeares und in Melodramen und war daher an modernen Stücken wenig interessiert. Dies ist die Ära des „gut gemachten“ Stückes, wobei

es sich meist um häusliche Dramen mit soziologischer Tendenz handelte, eine Kategorie von Stücken, deren bedeutendste Exponenten in England Arthur Pinero und Henry Arthur Jones waren. Lustspiele waren zu allen Zeiten auf Englands Bühnen populär. Ihre Zahl wurde gegen Ende des Jahrhunderts um die Stücke Oscar Wildes bereichert, von denen ganz besonders eines, „The Importance of Being Earnest“ (Bunbury), ein Klassiker im wahrsten Sinne des Wortes geworden ist.

Die Jahrhundertwende brachte den Realismus im Schauspiel, zu dessen Vertretern John Galsworthy, Granville Barker und die Dramatiker der „Schule von Manchester“ gehören, darunter Stanley Hope (dessen Stück „Hobson's Choice“ mit Charles Laughton verfilmt wurde), Harold Brighouse, St. John Ervine, der mit realistischem Idealismus über Probleme des täglichen Lebens schrieb. Eine große Gestalt des englischen Theaters trat um diese Zeit auf den Plan, die einen entscheidenden Einfluß auf das Theaterleben Großbritanniens ausüben sollte: George Bernard Shaw.

G. B. Shaw hatte sich als Musik- und Theaterkritiker bereits einen Namen gemacht und einige seiner frühen Stücke waren auf privaten Bühnen bereits aufgeführt worden. Dann aber wurden seine Stücke am Royal Court Theatre aufgeführt, an dem im Jahre 1908, unter Granville Barker, eine Spielzeit begann, die noch heute aus dem englischen Theaterleben nicht mehr wegzudenken ist.

Das kleine Royal Court Theatre am Sloane Square erfreute sich gegen Ende der zwanziger Jahre bei Kennern und Liebhabern, die dort Sir Barry Jacksons Shaw- und Shakespeare-Inszenierungen genossen, großer Beliebtheit. In diesem Theater fand auch die erste, von Berufsschauspielern gespielte Aufführung von Shaws fünfteiligem Stück „Back to Methusalem“ („Zurück zu Methusalem“) statt. Sir Ralph Richardson und Sir Laurence Olivier spielten hier ihre ersten Rollen.

Heute ist das Royal Court Theatre in London zum Theater der Avantgarde geworden. Unter dem Regisseur George Devine fand hier die Uraufführung von John Osbornes „Look Back in Anger“ statt. Es folgten Stücke von Arnold Wesker, Harold Pinter, Ionesco, Beckett und anderen.

In den zwanziger und dreißiger Jahren dominierte Shaw weiterhin auf den englischen Bühnen, aber auch Gesellschaftskomödien, vor allem von Somerset Maugham und Noel Coward, waren ungemein beliebt. Auch die Revue blühte, vor allem mit Produktionen von Charles B. Cochrane und Andre Charlot.

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Mit dem Erscheinen Christopher Frys im Theaterleben Englands nach dem Krieg schien es, als ob das poetische Drama seine Wiederauferstehung erleben würde. Seine Stücke „The Lady is Not for Burning“ („Die Dame ist nicht fürs Feuer“), „Venus Observed“ („Venus im Licht“) und „The Dark is Light Enough“ („Das Dunkel ist Licht genug“) fanden auf Grund des Reichtums ihrer Sprache und der dankbaren Rollen, die von so bekannten Schauspielern wie John Gielgud, Laurence Olivier und Dame Edith Evans verkörpert wurden, allgemeinen Anklang. Aber dennoch hielt sich dieses Genre nicht lange, und in seinem jüngsten Stück „Curtmantle“ („König Kurzrock“) verwendet Christopher Fry eine einfache und klare Sprache.

Die Sittenkomödie ist aus der Mode gekommen und das Publikum zieht dem Arbeitermilieu entnommene Stücke vor. Möglicherweise ist dies deshalb der Fall, weil einige der besten derzeitigen Bühnenautoren aus diesem Milieu hervor-

gegangen sind. Kriminalstück und Pantomime behaupten sich nach wie vor auf den Spielplänen.

Während der vergangenen Jahre ist auch das „Musical“ wieder aus der Versenkung emporgetaucht. Seit Kriegsende schien es, als hätten die Amerikaner das Monopol auf diese Art von Bühnenstücken, aber erst kürzlich gelang es einem jungen Autor aus dem Londoner East end, mit dem Musical „Oliver“ nach Dickens' „Oliver Twist“, einen großen Erfolg zu erringen. Gegenwärtig wird dieses Musical, mit dem gleichen Erfolg wie in London, in New York gespielt. Ein weiteres Stück von Bart, „Blitz“, behandelt die Bombenangriffe auf London. Eine musikalische Version von Thackerays „Vanity Fair“ („Jahrmarkt der Eitelkeiten“) soll demnächst in London anlaufen.

Die meisten englischen Theater werden rein kommerziell und von Privatgesellschaften geführt. Erst seit dem zweiten Weltkrieg erhalten einige kulturell wertvolle Bühnen über Vermittlung des Arts Council staatliche Subventionen. Dazu gehört beispielsweise das Old Vic, das sich seit seiner Gründung vor dem ersten Weltkrieg zur Hauptaufgabe machte, gute Aufführungen von Werken Shakespeares und der Klassiker zu erschwinglichen Preisen zu bringen. Am Old Vic begannen viele der bekanntesten englischen Schauspieler, so etwa Gielgud, Richardson und Olivier, ihre Karriere als Shakespeare-Interpreten. Gute Regisseure, wie beispielsweise Tyrone Guthrie, arbeiteten hier. Gemeinsam mit dem Royal Shakespeare Theatre in Stratford, hat das Old Vic die englische Shakespeare-Tradition aufrechterhalten.

In den letzten Jahren hat das Old Vic auch mehrere Ensembles ins Ausland geschickt, so nach Kontinentaleuropa und Nord- und Südamerika. Mit der Gründung des Britischen Nationaltheaters, das in dem neuerbauten Haus am Südufer der Themse untergebracht werden wird, werden die beiden Theater zusammengeschlossen werden.

Im Jahre 1961 übernahm das Royal Shakespeare Theatre das Aldwych Theatre in London, an dem seinerzeit das ganze Jahr hindurch klassische und moderne Stücke gespielt wurden, während es gleichzeitig in Stratford während der Festspielzeit die Shakespeare-Tradition fortsetzt.

Diese drei Theater verleihen dem britischen Theaterleben Auftrieb und neue Impulse. Es ist zwar richtig, daß durch das Fernsehen in der Provinz die Zahl der Theaterbesucher abgesunken ist, aber trotzdem können sich die Repertoiretheater dort noch behaupten. So erfreuen sie sich in Birmingham und Bristol beispielsweise unverminderter Beliebtheit.

Neue Theater wurden in Coventry und Nottingham gebaut. Ein weiterer Theaterbau erfolgt in Guildford (Surrey). Hier wird Michael Redgrave als künstlerischer Direktor wirken. Vor wenigen Monaten wurde eine architektonisch interessante Bühne in Chichester (Sussex) eröffnet, an der Sir Laurence Olivier drei Stücke mit ausgesprochenen Star-Ensembles herausbrachte. Vor einiger Zeit wurde Sir Laurence Olivier die künstlerische Leitung des National Theatre übertragen.

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