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THEATER IN ENGLAND

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Den Engländern, einem zweifellos musikliebenden Volke, wird häufig vorgeworfen, daß sie zwar Opernkomponisten, aber keine Nationaloper besitzen. Keine „Meistersinger“, keine „Verkaufte Braut“, keinen „Troubadour“, keinen „Rosenkavalier“ — nichts also, was ihre Wesensart in vielen Abwandlungen kristallisiert und von Generation zu Generation mit neuem Leben erfüllt wird. Nun, das ist nicht ganz richtig. Denn die Engländer haben eine Nationaloper - Shakespeares „Hamlet“. Seit Jahrhunderten berauschen sie sich an der Musik seiner Poesie, erkennen sie ihre eigenen elisa-bethanischen Vorfahren in den dänischen Höflingen wieder, lassen sie ihre Schauspieler, ehe sie ihnen dauernde Lorbeeren zuerkennen, über die Hürde dieser Rollen springen, werden sie nicht müde, immer neue Fassungen und Verwirklichungen dieses Werkes zu sehen. Jedes Schulkind vermag seine Monologe mühelos abzusingen. Ja, es gibt in England Shakespeare-Kenner, die seine Dramen, vor allem den „Hamlet“, am liebsten in einer jener Aufführungen sehen, wie sie an den großen alten Knabenschulen am Ende des Lehrjahres veranstaltet werden. Es sind häufig ausgezeichnet inszenierte und schön gesprochene Darstellungen, und sie haben die Durchsichtigkeit und den Glanz einer gläsernen Scheibe, durch die man das Werk in seiner ursprünglichen, unverfälschten Frische betrachten kann.

Diesen Shakespeare-Kennern; denen es auf eine möglichst untheatralische, entkörperlichte, gleichsam konzertante Interpretation seines Werkes ankommt, die zuweilen gar am liebsten die Partitur lesen und sich die ideale Besetzung im Geiste vorstellen wollen — diesen Leuten wurde kürzlich von der Technik ein Geschenk gemacht. Wie andere Musikliebhaber auch, können sie sich ihre Nationaloper jetzt auf Langspielplatten vorspielen lassen. John Giel-gud, der beste Hamlet seiner Generation, hat mit Schauspielern der Londoner Shakespeare-Bühne „Old Vic“ eine wunderbare Fassung des gesamten Dramas aufgenommen. Sie ist so gut wie ungekürzt und verwendet ein Minimum von Begleitmusik und Nebengeräuschen. Im Mittelpunkt steht Shakespeares Wort, diese unvergleichliche Verbindung von gedanklicher Tiefe und lyrischer AusdTucksform. Und es ist nichts Lobenderes darüber auszusagen, als daß man ihm zweieinhalb Stunden so entzückt und gebannt zu lauschen vermag wie nur einer meisterlichen Opernaufführung daheim im verdunkelten Zimmer.

Aber mehr ist im Gange. Die Marlowe-Gesellschaft der Universität Cambridge hat auf Betreiben des British Council damit begonnen, eine gesprochene Gesamtausgabe der Shakespeare-Dramen herzustellen. Dieser Verein, vor Jahrzehnten begründet, hat sich seit jeher in den Dienst möglichst werkgetreuer Aufführungen der englischen Klassiker gestellt. Seiner Theatergruppe gehören neben Studenten auch junge Dozenten an, deren Namen allesamt ungenannt bleiben, und sie wird von zwei großen englischen Autoritäten, den Shakespeare-Forschern Dr. Dover Wilson und Professor George Rylands, beraten und geführt. In Deutschland bekam man die Schauspielernder Marlowe-Gesellschaft zu sehen, als 1948 in Berlin elisabethanische Festwochen abgehalten wurden. Allen, die damals Shakespeares „Maß für Maß“ und Websters „Weißen Teufel“ in dieser Cambridger Inszenierung kennenlernten, blieb der reine, kühle, edle Ton, der jugendliche Ernst, der ehrfurchtsvolle Enthusiasmus ihrer Interpreten unvergeßlich. Man wurde, um im musikalischen Idiom zu bleiben, an die Aufführung einer Gluck- oder Händel-Oper durch Sängerknaben gemahnt, die was sie an Theatra-lik vermissen lassen, durch ihre Frische, ihre Unschuld, ihre Hingabe an das Werk ersetzen. Schließlich wurden zu Shakespeares Zeiten alle Frauenrollen und alle jugendlichen Helden von solchen blutjungen Leuten gespielt, und so kommt die Marlowe-Truppe seinem Geist recht nahe. Sechs Dramen hat sie nun bereits auf Schallplatten festgehalten. „Othello“, „Wie es euch gefällt“, „Troilus und Cressida“ sind auf dem Markt, „Julius Cäsar“, „Coriolanus“ und „Richard II.“ vom Juni an erhältlich. Von den bisher gehörten scheint* der „Othello“ am besten geglückt. Auch die anderen aber werden Shakespeare-Enthusiasten daheim und anderwärts eine Quelle der Belehrung und Beglückung sein.

Kein Wunder freilich, daß dieser Dramatiker sich noch immer die Begeisterung der englischen Jugend erhält, während man in Deutschland der Klassiker gewöhnlich für mehrere Jahre müde wird, nachdem man sie in der Schule zu oft hat kauen und wiederkäuen müssen. Denn Shakespeare ist übersinnlich-tief und derb-humorig zugleich, ist humanistisch und human, ist sublim und doch voll erdnahem Gelächter. Verwöhnt von seiner Kost, hat man sich in England nie wirklich mit dem großen Ideendrama befreunden können, wie es im übrigen Europa zu Ehren kam. Schiller und Goethe wurden hier kaum, Lessing, Kleist und Griilparzer nie und auch Ibsen nur widerwillig gespielt, nachdem Shaw, dessen eigener Ruhm erst aus Europa nach England zurückstrahlen sollte, ihn seinen britischen Landsleuten aufgezwungen hatte. hfauptmanrV.'blieb unbekannt. Nur Ttblffchow, äcssen Tanaaüe ml?deinen müßigen Problemen dem englischen so glich, wurde in Gnaden aufgenommen. Da man keinen neuen Shakespeare fand, ließ man sich vom Theater lieber gleich harmlos unterhalten und begnügte sich damit, sein eigenes Spiegelbild auf der zum Salon gewordenen Szene zu erblicken. Auch heutzutage ist das nicht viel anders. Die große Masse der Stücke, die sich auf dem Spielplan halten, sind Gesellschaftskomödien. Anstandshalber, und zumeist später als in Deutschland, führt man Sartre, Anouilh, Tennessee Williams auf, doch sie werden als Schauspielervehikel betrachtet und keiner ideologischen Diskussion gewürdigt.

Aber wir haben hier, gottlob, die Avantgardetheater. Wir haben kleine Klubbühnen, an denen unter sogenanntem Ausschluß der Oeffentlichkeit, will heißen für einen geringfügigen Klubbeitrag, Stücke von Genet, von Beckett oder Ghelderode gesehen werden können, die sonst von der Zensur nicht zugelassen würden. Und wir haben eine neue Truppe im Royal Court Theatre, die unter Leitung des hervorragenden Theatermannes George Devine die englische Szene entscheidend verändert hat. Das kleine Theater, nahe dem Bohemebezirk Chelsea gelegen, hat eine gute Tradition. Zu Anfang des Jahrhunderts wurden hier Stücke von Shaw und Galsworthy uraufgeführt und griechische und altenglische Dramen ihrer viktorianischen Ueberpuderung entledigt. Lange war es seither ins Mittelmaß versunken oder gänzlich brach gelegen, bis vor zwei Jahren die neugegründete English Stage Company seine Umgestaltung übernahm. Dieser unternehmungslustigen Vereinigung ... stehen , der Musikmäzen und Vetter der Königin, Lord Harewoqd, und der Verfasser ausgezeichneter Versdramen, Ronald Duncan, vor. Zu ihren Geldgebern gehören neben dem Britischen Kunstrat auch Industrielle und Warenhausbesitzer, und zu seinen Autoren wie zu seinem Publikum all jene wachen, frechen, temperamentvollen und unzufriedenen Leute, die von der sensationslüsternen Presse als „zornige junge Männer“ abgestempelt worden sind.

In diesen beiden Jahren wurde am Royal Court Theatre höchst Beachtliches geleistet. Hier gelangte John Osborne zu raschem und wohlverdientem Ruhm. Hier wurde London mit Arthur Millers „Hexenjagd“, mit Sartres „Nekrassov“, mit Beckett, Ionesco und Genet bekannt gemacht, die kein Theater des sogenannten Westends aufgeführt hätte. Hier wurden ungekürzte und herrlich ungehemmte Aufführungen der „Lysistrata“ und der Restaurationskomödie „Die Frau vom Lande“ angesetzt Hier wurde dem Romancier Angus Wilson erlaubt, in seiner Komödie „Der Maulbeerbaum“ seine Kritik an der englischen Gesellschaft mit den Mitteln des Theaters fortzusetzen. Und hier konnte nicht nur Nigel Dennis sein antireligiöses Stück „Wie Muh gemacht wird“, sondern auch Stuart Holroyd sein religiöses Stück „Die zehnte Chance“ vor die Oeffentlichkeit bringen. Bei der Premiere dieses Dramas, das in einem nationalsozialistischen Gefangenenlager in Oslo spielt, kam ,es zu einem bemerkenswerten Theaterskandal. Die zornigen jungen Männer, deren rechten Flügel Stuart Holroyd bildet, wandten sich gegen ihn. Nur sein Freund- und Mentor Colin Wilson — der Verfasser des populärphilosophischen Buches „Der Außenseiter“ — nahm ihn in Schutz. Und nachdem das Theater geschlossen wurde, ging der Streit in einer benachbarten Schenke weiter. „Ein religiöses Stück an einer Avantgardebühne!“ schrie man. „Wie konnte das geschehen?“ Und John Osborne, der eben, sonnverbrannt, von einem Besuch in New York zurückgekehrt war, wo sein „Entertainer“ Triumphe feiert, rief: „Wunderbar! Nur so weiter. Rauft euch nur die Haare aus. Auf so etwas habe ich seit langem gewartet.“ Das Wortgefecht endete in einem wilden Getümmel, das am nächsten Tage ausführlich in den Zeitungen stand und den zornigen jungen Leuten nicht nur blaue Flecke, sondern auch viel willkommene Reklame eintrug.

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