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Protest auf deutschen Bühnen

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Ursprünglich wollte das Berliner Theatertreffen die „besten deutschsprachigen Inszenierungen jeder Spielzeit In Berlin versammeln; im Vorjahr ersetzte Friedrich Torberg das wertende Adjektiv durch „interessantesten ; in diesem Jahr sprach Henning Rischbieter für die Jury von den „wichtigsten" Aufführungen; deutliches Zeichen dafür, dafj sich weit mehr als die Kunst der Schauspieler, Bühnenbildner und Regisseure die Art des Zuschauens verändert hat. Sie ist politischer geworden; manchmal sogar schlechthin politisch. Die veränderte Aufnahme geht bis zum Grob-Handgreiflichen, so, als junge Leute während einer Aufführung in das Schillertheater gehen wollten, um aus dem Theaterstück gegen den Willen der meisten Besucher eine Hotstandsdiskussion zu machen. Von der Polizei wurden sie abgehalten, einige Scheiben der Eingangstüren gingen In Scherben. Politisierung aber auch während der Aufführungen durch Buh- und Zwischenrufe.

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Ursprünglich wollte das Berliner Theatertreffen die „besten deutschsprachigen Inszenierungen jeder Spielzeit In Berlin versammeln; im Vorjahr ersetzte Friedrich Torberg das wertende Adjektiv durch „interessantesten ; in diesem Jahr sprach Henning Rischbieter für die Jury von den „wichtigsten" Aufführungen; deutliches Zeichen dafür, dafj sich weit mehr als die Kunst der Schauspieler, Bühnenbildner und Regisseure die Art des Zuschauens verändert hat. Sie ist politischer geworden; manchmal sogar schlechthin politisch. Die veränderte Aufnahme geht bis zum Grob-Handgreiflichen, so, als junge Leute während einer Aufführung in das Schillertheater gehen wollten, um aus dem Theaterstück gegen den Willen der meisten Besucher eine Hotstandsdiskussion zu machen. Von der Polizei wurden sie abgehalten, einige Scheiben der Eingangstüren gingen In Scherben. Politisierung aber auch während der Aufführungen durch Buh- und Zwischenrufe.

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Es hat diese Störversuche zwar tomėr schon gegeben, in diesem Jahr aber wurden sie von politischen Einsichten oder Mißverständnissen her formuliert und erstrebten politische Wirkungen. Nach der Aufführung folgten die Diskussionen: hitziger und politischer schon in vielen privaten Kreisen, an einigen Abenden sogar öffentlich. Zum Teil waren sie vorbereitet wie bei der Münchner Brecht-Aufführung in der Schaubühne. Da unterbrach kurz nach Wiederbeginn der Regisseur Peter Stein sein Stück, um einen Protest gegen die Notstandsgesetzgebung zu formulieren. Er hatte noch kaum begonnen, als etwa zehn Demonstranten von außerhalb erschienen; sie trugen Transparente; auch sie wollten eine Resolution verlesen und aus der Aufführung sofort eine Diskussion machen. Auf beschwörende Bitten von Theaterleiter und Regisseur verließen sie nach wenigen Minuten das Haus; der Regisseur sprach seinen Protest und lud zu einer Diskussion gegen die Notstandsgesetze im Anschluß an die Aufführung ein.

Direkt mit dem Stück verbunden und spontan war eine andere Diskussion in der Volksbühne. Da mischten sich nach der Wuppertaler Aufführung (O’Casey: Der Pott) starker Beifall mit einigen Buhrufen. Einer der Schauspieler sprang an die Rampe, bat um Ruhe und erklärte: Auch er fände die Inszenierung schlecht und falsch; ob man nicht darüber diskutieren könne. Was im Foyer des Theaters dann auch geschah. In der Presse wurden die Diskussionen fortgesetzt. So protestierten etwa die jungen Bühnenangehörigen, von denen man auch in diesem Jahr wiederum 30 zu dem Theatertreffen eingeladen hatte, in einer Pressenotiz gegen die Auswahl der Jury in zwei Fällen (Genet und Büchner). Sie lobten in anderen Fällen und hatten zugleich eine neue Formel parat, nach der man in diesem Jahr hätte auswählen sollen: nicht die wichtigen, sondern die „richtigen", das aber heißt, Stücke von richtiger „gesellschaftlicher Qualität“ seien nötig gewesen. Und vergessen wir schließlich nicht die Kritiker: auch sie sind Publikum, das sich nach der Aufführung artikuliert. Dazu aber gehören auch die Mitglieder der Jury: ihr Wertungsbegriff von „Wichtigkeit und Zeitnähe“ ist ebenfalls nichts anderes als ein erster Beweis für die veränderten Augen, mit denen das Publikum die Arbeit des Theaters sieht.

Zwölf Inszenierungen hatte die unabhängige Jury ausgesucht: Aufführungen aus Wuppertal, Stuttgart und München (je 2), aus Berlin (einmal Ost, zweimal West), aus Essen, Hamburg und Bremen. Neun davon konnten in West-Berlin gezeigt wenden; eine weitere (Brecht: „Der Brotladen“) war im Berliner Ensemble in Ost-Berlin zu sehen. Aus Besetzungsschwierigkeiten fehlten eine Münchner (Edward Bond: „Gerettet“, Regie: Peter Stein) und eine Wuppertaler Aufführung (Peter Hades: „Moritz Tassow“, Regie: Ballhausen Wüstenhöfer). Zwei junge Regisseure waren zum erstenmal eingeladen (Stein und Hans Hollmann); mit Samuel Beckett, dem Franzosen Roger Blin (für Genet) und dem Rumänen Liviu Ciulei (für „Dantons Tod“) waren dreimal ausländische Gäste erfolgreich; auch Fritz Kortner war zum erstenmal mit einer Inszenierung vertreten.

Mit Hamburger Schauspielern zeigte er Strindbergs „Vater“ als gefährlich langsames und gefährlich leises Kammerspiel ohne pathetische Übersteigerung. In den Nebenfiguren hellt er sogar zum Komischen hin auf, demaskiert den Pastor als unentschiedenen Schwätzer, zeigt die Unbedarftheit des pfauenhaft-gečken Arztes und die tapsige Bauernschläue des Burschen. In dem riesigen verwinkelten Wohnraum wirkt der Windfang wie ein Irrenhausgitter, das an den Marat von Peter Weiß gemahnt, sobald er sich mit den graugewandeten Frauen füllt. In dieser Schlangengrube kämpft Werner Hinz um Klarheit, ein bis in die Fingerspitzen, bis zu jedem kleinen Requisit hin erfülltes Spiel. Gleichberechtigt neben ihm Maria Wimmer in der Studie des perfiden, weil schwachen Weibes. Wenn man trotz dieser Protagonisten und eines bis zur letzten Rolle hin reifen Ensembles nicht froh wurde, lag das an Strindberg.

Kortner hatte seine Inszenierung auf quälende Langsamkeit gestellt; für mich war dennoch jeder Moment erfüllt, aussagekräftig. Die nächsten beiden Inszenierungen aber waren nicht nur lang, sondern auch langweilig. Roger Blin hatte sich in

Genets Wortkaskaden verrannt; er gab die „Wände“ in aller Ausführlichkeit und mußte dafür kurz vor Mitternacht Lacher und Zwischenrufe einstecken; ein großartiges Terzett alter Weiber konnte nicht über mancherlei Schwächen im Essener Ensemble hinwegtäuschen; vor allem aber hatte er bei der Beachtung jedes Details vergessen, seinem Theater auch insgesamt eine Richtung, eine Entscheidung zu geben. So mußte man mit Details vorliebnehmen; und Details gab es auch nur bei der Münchener Brecht- Aufführung „Im Dickicht der Städte“, diesem vieldeutig-geschwätzigen Werk vom Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chikago. Peter Stein ließ auf einem Bühnengerüst mit fast einem Dutzend verschiedener Spielflächen agieren: er hielt seine Darsteller zu genauer Charakterisierung und artistischen Kletterleistungen an; er schuf immer wieder imponierende Momente: was er aber mit seiner Aufführung eigentlich wollte, wußte er offensichtlich nicht. So versank das Stück für mich immer mehr in schale Aneinanderreihung von nicht absurden, sondern unverständlichen Aktionen und Reaktionen bis hin zu dem auch objektiv sicherlich verunglückten Finale, das bei Brecht in den Kiesgruben am Michigansee spielt und hier ebenfalls in eine Holzfabrikkulisse gestellt wurde. Aus der geistigen Unklarheit, der Besessenheit an Undurchschaubarem hielt sich einzig Edith Clever als Marie heraus: die Verfallenheit an Shlink, den Holzhändler, gab sie mit bohrender Intensität und zugleich das Unverständnis vor dem zelebrierten Gehabe der Männer.

Noch ein anderes Experiment scheiterte an der fehlenden geistigen Konzeption des Regisseurs: Peter Zadek stellte mit Bremer Schauspielern seine „Maß-für-Maß“- Inszenierung auf die nackte Bühne. Das begann wie eine Konfrontation moderner Menschen mit Shakespeares Text; aber dann verloren sich die Bremer immer mehr an eine veraltete Handlung, die sie nicht einmal verständlich zu spielen verstanden; sie gaben weder Kommentar noch Fabel, weder Shakespeares Weltschau noch eine eigene. Es war der sinnloseste Abend.

Daß dieses Urteil nicht Einfallsreichtum und Kraft des Regisseurs Zadek, sondern die dramaturgische

Konzeption trifft, wurde bei „Maß für Maß“ deutlich. Es wurde auch bestätigt durch die Aufführung des „Pott“, die Zadek als Gast in Wuppertal erarbeitet hatte. Auch hier skelettierte er das Stück, versetzte es mit Zügen des absurden Theaters, mit Brüchen und Sprüngen. Bei O’Casey erbringt diese Methode überraschende Durchblicke: Fußball und Krieg, Alltag und Zerstörung, Rolle und Demaskierung werden brutal und lustig neben- und durcheinander gestellt; Fußballerbeine schauen unter Arztkitteln hervor; Mutters Abschied, Bier und Tod in der Schlacht sind im selben Moment vor dem gleichen Grasgrün des Fußballrasens zu sehen. Trotz merkwürdiger Schwächen der Aufführung nach der Pause (als habe Zadek plötzlich keine Lust mehr gehabt), war es eine gute Leistung, die für meine Begriffe auch die Antikriegstendenz des Stückes überzeugend und eindrucksvoll herausbrachte.

Sympathisch, aber in diesem Ansturm ungewöhnlichen Theaters seltsam verloren, war die Stuttgarter Aufführung der „Marija“ von Isaak Babel: ein Revolutionsstück aus der Sicht der Unterlegenen, mit Tsche- chowscher Melancholie und Langsamkeit. Nur mäßige Aufnahme bei den Gästen des Theatertreffens fand Büchners „Dantons Tod“; zu sehr hat die Inszenierung durch Umbe-

setzungen gelitten; was einst erfülltes Theater war, scheint nun zu Opernpomp abgeglitten. Der zweite Westberliner Beitrag dagegen überzeugte gerade durch seine Zeitlosigkeit: Beckett hat selbst sein „Endspiel“ ganz auf das Wort gestellt, verwehrt jede Interpretation und gibt dadurch den Raum frei für große Schauspielerleistungen (Ernst Schröder, Horst Bollmann). Gut gefiel uns auch die Aufführung von Horvaths „Italienischer Nacht“ durch die Stuttgarter unter dem Wiener Hans Hollmann.

Sie fanden keine gute Presse: die Aufführung der Berliner Volksbühne (nach den Stuttgartern herausgekommen) sei wesentlich besser, besser besetzt vor allem. Nun wies die „offizielle“ Erläuterung der Jury im Programmheft schon darauf hin, daß hier vor allem die Entdek- kung des Stückes gelobt werden sollte. Das ist aber zugleich auch eine Bestätigung dafür, daß die Auswahlprinzipien wohl doch nicht richtig waren, wenn eine Aufführung schon wenige Wochen später „überholt“ werden kann durch eine andere.

Damit aber sind wir wieder bei den Reaktionen des Publikums. Daß sie stärker geworden sind und deutlicher, spricht dafür, daß zumindest das experimentelle Theater dieses Treffens seine Lebendigkeit bewahrt hat, daß es weiterhin aufregt und vor Entscheidungen stellen kann.

Bedenklich aber wird die Vergröberung der Reaktionen, die mit Verdächtigungen einhergeht. Wer bei Zadeks „Pott“ klatschte, das zum Beispiel wurde in der Diskussion gesagt, sei ein Militarist. Ähnlich oberflächlich bekamen einzelne Sätze in der „Italienischen Nacht“ demonstrativen Applaus, weil sie eine Stellungnahme zur Gegenwart erlaubten. Und ich fürchte, daß die jungen Bühnenangehörigen sich primär deshalb gegen Büchner und Genet wandten, weil in ihren Revolutionsstücken die Revolution nicht zum Sieg geführt wird. Das aber würde den Mißbrauch des Theaters zum Instrument der Selbstbestätigung bedeuten.

Zugleich aber ist zu fürchten, daß die Reaktionen des jungen Publikums antirational geworden sind: die Sinnlosigkeiten beim jungen Brecht kamen an, weil sie von Brecht sind und zugleich auf einen vagen Antiamerikanismus (oder Antikapitalismus) bezogen werden konnten. Die Sinnlosigkeiten bei Zadeks Shakespeare wurden gefeiert, weil sie so neu und ungewohnt und revolutionär sind.

Es ist an der Zeit, für die Autonomie des Theaters einzutreten, die Bühne frei zu halten als Ort der Fragen und der Untersuchungen und sie nicht festzulegen auf die Verkündigung unumstößlicher Wahrheiten, mögen sie so modern sein wie sie wollen.

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