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Exklusive Pacht der Kreml-Macht

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Ein überaltetes Führungsgremium hält sich krampfhaft an der Macht - darin liegt das Sensationelle des 26. Parteitages der KPdSU, nachdem sich wieder der rote Vorhang über die zehntägige Monsterschau im Kongreßpalast gesenkt hat. Die Kreml- Gerontokratie stützt sich gegenseitig und bewahrt die Schalthebel in ebendenselben Händen -solches hat es in sowjetischer Geschichte noch nicht gegeben.

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Ein überaltetes Führungsgremium hält sich krampfhaft an der Macht - darin liegt das Sensationelle des 26. Parteitages der KPdSU, nachdem sich wieder der rote Vorhang über die zehntägige Monsterschau im Kongreßpalast gesenkt hat. Die Kreml- Gerontokratie stützt sich gegenseitig und bewahrt die Schalthebel in ebendenselben Händen -solches hat es in sowjetischer Geschichte noch nicht gegeben.

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Breschnew bleibt damit für die nächsten fünf Jahre im Amt des Generalsekretärs. In sowjetrussischer Geschichte ist er damit der betagteste Führer, der seinen Einfluß behalten kann, ein Jahr älter als Stalin war, als er am 8. März 1953 im Lenin-Mausoleum beigesetzt wurde. Der Herr der Partei denkt nicht an Hofübergabe, obwohl ein ganzer Industriezweig aufgeboten ist, um ihn bei Gesundheit und bei Laune des Souveräns zu halten.

Seine greisen Kollegen im Politbüro und Sekretariat brauchen ihn mehr als er sie benötigt. Arwid Pelsche mag mit seinen 82 Jahren noch als Symbolfigur für die baltischen Republiken im Machtzentrum behalten werden. Michael Suslow hingegen, die graue Eminenz in den Zarenhallen und der eigentliche Gralshüter der reinen Lehre, nur drei Jahre jünger als Pelsche, ist heute buchstäblich auf dem Gipfel der Macht, nachdem jene, die ihm bisher den zweiten Platz in der Hierarchie streitig gemacht haben, entweder gestorben sind oder in Zwangspension geschickt wurden.

Die alten Herren im Kreml brauchen ihren gegenwärtigen Führer, sind darin eines Sinnes, daß ein Jüngerer, einmal zur Spitze emporgestiegen, ihnen nur gefährlich werden könnte. Der Generalsekretär als Garant der Machterhaltung für die anderen. Wie lange noch'/

Nachfolger bieten sich auch gar nicht an. Keiner der relativ Jüngeren, etwa der ukrainische Parteichef Schtscher- bitzki, 64, oder der Kremlstatthalter in Leningrad, Romanow, 57, hat jene Position erworben, die Breschnew innehatte, als er Chruschtschow von der Spitze verdrängte.

Die sowjetische Parteigeschichte hat ihre eigenen Gesetze. Erklärte Kronprinzen schaffen den Durchbruch nie, wohl aber Leute im Hintergrund, die im verborgenen ihre Fäden ziehen und in ihrer Unauffälligkeit bei den anderen nicht in Verdacht geraten. Derartiges hatte schon für Stalin Gültigkeit, ebenso für Chruschtschow und Breschnew selbst.

Die Ideologie liefert die Handhabe, solche Gesetzmäßigkeit zu erhalten und durchzusetzen: Im Sinne des „de

mokratischen Zentralismus“ werden Nachfolgende kooptiert, nicht von unten an die Spitze getragen. Nach diesem Grundsatz gebieten die Machthaber über die Möglichkeit, Aufstrebendes abzuwürgen und die Staats-, Parteigewalt im familiären Kreis zu halten.

Durch diese exklusive Pacht der Gewalt im gleichen personellen Kreis erhält der oberste Grundsatz Bresch- new’schen Genres - Kontinuität und Stabilität - eine gefährliche Dimension: Ausgewogenheit und Gleichgewicht nicht über die Ära hinaus. Alte Männer reden von Erneuerung, von der Nähe echt kommunistischer Gesellschaft ohnedies eine Utopie - und sie halten sich für die einzig Richtigen, diesen Wandel durchzuflihren.

Hang zum Zynismus

Was müssen die leidgeprüften Sowjetmenschen in ihrem Innersten denken, wenn diese Führung die glänzenden Zukunftsaussichten der Wirtschaft eröffnet, dieselbe Mannschaft aber in den letzten fünf, zehn Jahren nicht im entferntesten in der Lage gewesen ist, einen besseren Lebensstandard zu sichern und die eigene Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen?

Der Prozeß der Überalterung nährt den Hang zum Zynismus, der beim Roten Platz schon immer zu Hause gewesen ist. Breschnew schiebt in gewohnter Manier Negativa, die nicht in die Propaganda passen, dem ideologischen Feind oder dem chinesischen Apostaten in die Schuhe: die Sowjetunion ist von aggressiver Feindschaft und von Kriegstreibern umgeben.

„Während sich am Beginn der achtziger Jahre Gewitterwolken über dem internationalen Horizont zusammenballen, setzt Sowjetrußland die Anstrengungen fort, die drohende Krise abzuwenden, Detente zu erhalten und zu vertiefen.“ (Breschnew) Am Beginn der achtziger Jahre? Genau als sich der Wechsel von einem Jahrzehnt zum anderen vollzog, ist die Rote Armee in Afghanistan einmarschiert.

Und kaum ist der Sturm der Beteuerungen brüderliche Liebe zu den Ver

bündeten, unbedingter Bestandteil des solennen Parteirituals, verklungen, steht die polnische Parteiführung schon wieder unter Druck, sich brüderlicher sowjetischer Hilfe in der Art von 1956 und 1968 gegenüber zu sehen. Die sowjetische Invasion ist nach der Ruhe in und um den Parteitag wieder gefährlich in die Realität gerückt.

Bedarf es noch eines weiteren Beweises, daß der Kreml an dem festhält, was gemeinhin die „Breschnew-Doktrin genannt und von den Sowjets in Abrede gestellt wird: die beschränkte Souveränität der Verbündeten und der Unwille, kommunistischen Parteien außerhalb des Imperiums, Herrschenden wie Opponierenden, die Entwicklung eigener Wege zu gewähren.

Das Schreckgespenst ideologischer Aufweichung, ja geistiger Unabhängigkeit ist für Moskau immer noch schwerer zu ertragen als ungünstige Weltmeinung und angeschlagener Ruf. Deshalb ist in diesem Fall der Einsatz von Gewalt und Unterdrückung nicht auszuschließen.

An versöhnlichen Gesten fehlt es in Breschnews Reden nicht. Neben dem Vorschlag zum Gipfeltreffen faßt Breschnew noch - wie er es nennt - Opfer ins Auge, die als „vertrauensbildende Maßnahmen“ westliche Einwände zerstreuen und die andere Welt auf den Kurs von Detente zurückführen sollen. Allerdings sind die sogenannten Opfer verklausuliert und in Andeutungen verpackt:

Uber Afghanistan kann geredet werden, obwohl diese Krise vorerst außerhalb jeder öffentlichen Diskussion gestanden war. Und auch von Truppenbewegungen hinter den Ural ist zwischen den Zeilen zu lesen. Niemand kann allerdings Breschnew deshalb beim Wort nehmen.

Und was die Gewerkschaften betrifft, defmitionsgemäß T ransmissions- riemen zur Überführung des Parteiwillens auf dem Massen, so bemerkt der Generalsekretär, diese hätten mehr als bisher auf Forderungen und Bedürfnisse der Arbeiter einzugehen. Sicherlich ist dies ein geringer Tribut an die Vorgänge in Polen, wo die Arbeiter im

Staat der Arbeiter ihr Recht verlangen.

Freilich gib es auch im eigenen Land Beklagenswertes, was schwerlich dem ideologischen Widerpart angelastet werden kann. Breschnew scheint freimütig zu kritisieren - zumindest vor diesem erlauchten Forum erstaunlich: Fehlen von Nahrungsmitteln und Konsumgütern, trauriger Zustand des Gesundheitswesens, Trunksucht, Zusammenbruch der Familienbande, Jugend ohne echten Werte, die offensichtlich auch die Partei nicht vollends vermitteln kann, Schwarzer Markt, Nationalismen, Landflucht und dergleichen.

Doch sensationell ist das auch nicht. Ähnliche Kritik hat Breschnew auf dem letzten Parteitag vorgebracht, ebenso allein. Es sind Probleme, die der Sowjetbürger täglich am eigenen Leib verspürt, die ihm nicht unbekannt sind.

In der einen oder anderen Weise sind diese negativen Seiten des Lebens von Parteidokumenten angeklagt und in beschränktem Maße von der Zensur frei- gegeben worden. Doch von der Anklage zur Beseitigung ist noch ein weiter Weg. Der Kreml liebt kleine Schritte, die zu zaghaft sind, um reformierend zu wirken - auch im sozialen Leben.

Ein glänzend inszenierter Parteitag, getragen von dem krankhaften Bestreben, alles zu vermeiden, was aus dem alteingefahrenen Trott herausführen könnte. Das wird aber nicht verhindern können, daß sich die vorerst unterdrückten Probleme mit der Zeit in wachsender Dringlichkeit zu Wort melden. Auch dem ewigen Verzug des Generationswechsels sind Grenzen gesetzt, zuletzt durch die festgesetzte Lebensdauer auch der Mächtigsten.

Frage der Menschenrechte

Auf lange Frist ist auch ein anderes Themakaumtotzuschweigen,vondiesem Kongreß im Unterschied zum Vorgänger nicht aufs Tapet gebracht: Die Frage der Menschenrechte. Vor dem Parteitag haben Miliz und Sicherheitsorgane ganze Arbeit geleistet.

Sacharow ist seit mehr als einem Jahr ins entlegene Gorki verbannt. Andere Menschenrechtskämpfer fristen ein weltvergessenes Dasein in Irrenanstalten, Gefängnissen und Lagern. Wieder andere sind über die Grenzen abgeschoben, wo sie dem Kreml nicht mehr so gefährlich sein können. Auf Dauer läßt sich der Ruf nach individueller Freiheit jedoch nicht unterdrücken oder durch eine Schau von Einigkeit und Parteitreue ersetzen.

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