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Gewissen und Gebot Gottes

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Was ist das Gewissen? Wann ist es Ausdruck der Mündigkeit, wann wirkt die Berufung darauf wie eine unglaubwürdige Ausrede? Es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen, nicht nur - aber auch - unter dem Gesichtspunkt christlicher Sexualmoral.

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Was ist das Gewissen? Wann ist es Ausdruck der Mündigkeit, wann wirkt die Berufung darauf wie eine unglaubwürdige Ausrede? Es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen, nicht nur - aber auch - unter dem Gesichtspunkt christlicher Sexualmoral.

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Die Schlange sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.

Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, daß der Baum'eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie entschied sich in ihrem Gewissen, nahm von den Früchten und aß sie; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, auch er fällte eine Gewissensentscheidung und aß...

Als sie Gott, den Herrn, einher-schreiten hörten, dachten sie an ihr Gewissen, blieben ruhig und aßen weiter. Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe? Adam antwortete: Allerdings, meine Frau und ich haben mit der Schlange darüber gesprochen und die Sache dann in unserem Gewissen entschieden. Gott, der Herr, war mit dieser Antwort sehr zufrieden und lobte die Mündigkeit Adams und Evas. Sie durften natürlich im Paradies bleiben, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

So oder ähnlich müßte die Pa-radieses-Geschichte in unserer Zeit eigentlich umgeschrieben werden, um nicht in Widerspruch zur öffentlichen Meinung zu geraten. Natürlich wäre auch der Titel „Sündenfall“ durch „Die erste Gewissensentscheidung“ zu ersetzen.

Vielleicht lacht jetzt der eine oder andere Leser, aber keiner wird meinen, man sollte diese Umschreibung wirklich übernehmen. Nicht nur die Treue zum Text als solchem spricht dagegen, sondern der Hausverstand, der gesunde Instinkt, das Gespür, daß es Unsinn wäre, so zu reden. Ohne Zweifel, das Ergebnis ist falsch. Die Frage ist nur: Warum eigentlich? Wo versteckt sich der Fehler des Gedankens? Hört man nicht oft und oft, das Gewissen sei die oberste Instanz in Sachen Moral, und jede „Norm“, jedes „Gebot“ sei ihm Untertan? Das Gewissen, so sagen sogar manche Theologen, steht doch „über“ allen Sitten, Normen und Geboter.

Folgende Überlegung führt uns weiter: Angenommen, jemand erzählt „Herr K. entschied in seinem Gewissen, mit Herrn A. in der Weise X zu verfahren“, und knüpft daran die Frage, was der Zuhörer davon halte, würde kein Mensch auf die Idee kommen zu sagen: „Ausgezeichnet“ oder „Ein Verbrechen!“. Jeder denkende Mensch würde selbstverständlich zurückfragen: Was hat Herr K. denn mit Herrn A. gemacht? Denn der erste Teil des Satzes „Herr K. entschied in seinem Gewissen ...“ würde niemanden befähigen, ein moralisches Urteil über die Geschehnisse zu fällen. Man könnte höchstens sagen: Wenn Herr K. wirklich im Gewissen von der Richtigkeit seines (uns noch unbekannten) Tuns überzeugt war, dann ist er unschuldig geblieben — was immer er gemacht hat.

Nehmen wir an, in diesem Moment würde der Fragesteller sagen: Herr K. heißt mit seinem vollen Namen Kain, und beim anderen handelt es sich natürlich um den armen Abel, dann wüßte jeder sofort: Er hat ihn erschlagen, und das war objektiv eine schwere Sünde. Sollte die erste Behauptung, Kain habe nach seinem Gewissen entschieden und gehandelt, zutreffend sein, dann ergäbe sich die zwingende Folgerung: Kain hatte — fast unvorstellbar — ein schuldlos irriges Gewissen und ist daher subjektiv ohne Sünde, obwohl er objektiv einen Mord begangen hat.

Daraus ergeben sich einige. wichtige Erkenntnisse: Der Verweis auf das Gewissen sagt zunächst nur etwas über die subjektive Verfassung des Handelnden. Bei moraltheologischen Fragen geht es aber immer um die objektive Bewertung eines bestimmten Verhaltens, niemals um das (unmögliche) Urteil über einen bestimmten Menschen. Um eine Frage der Ethik zu entscheiden, bedarf es daher objektiver Kriterien, aufgrund derer das Gewissen des einzelnen entscheiden kann und soll. Ein Gewissen, dem keine Daten eingegeben werden, kann auch kein Urteil fällen. Diese Hinwendung zur Realität ist unabdingbare Voraussetzung jeder Diskussion über ethische Fragen.

Das zeigt sich nochmals bei einem modernen Beispiel, von dem das Konzil gesprochen hat: Die Eltern, so wird in einem der Dokumente gesagt, müssen das Urteil über die Zahl ihrer Kinder „letztlich selbst fällen“. Dabei müssen sie sich, das hält der Text ausdrücklich fest, von ihrem „Gewissen leiten lassen, das sich am göttlichen Gesetz auszurichten hat“. Das heißt aber: Es geht nicht an zu sagen: Gewissen oder göttliches Gesetz, sondern man muß sagen: Das göttliche, objektive Gesetz ist Grundlage und Voraussetzung der Gewissensentscheidung.

„Muß man Gott nicht mehr gehorchen als den Menschen und ihren Gesetzen?“, könnte jemand einwenden und sich dabei auf das Prinzip der ersten Apostel gegenüber ihren Gegnern berufen. Das ist selbstverständlich richtig, beweist aber erst recht, worum es hier geht: Das Gewissen verpflichtet uns unbedingt auf das Gebot Gottes und setzt dabei — im Fall eines Konfliktes — die Gesetze der Menschen außer Kraft.

Damit hat dieser Einwand eine entscheidende Unterscheidung in den Blick gebracht: Welten liegen zwischen dem Gebot Gottes und den Gesetzen des Menschen. Das Gewissen orientiert sich natürlich am Gebot Gottes und fühlt sich den menschlichen Gesetzen nur soweit verpflichtet, als dieser Gehorsam menschlicher Autorität gegenüber vom göttlichen Gebot her gerechtfertigt und aufgetragen wird.

Aus all dem folgt: Das Gewissen läßt sich niemals gegen ein Gebot Gottes ausspielen, als ob es eine Uber-Instanz wäre, die sogar die Zehn Gebote relativieren könnte.

Alles, was bisher gesagt wurde, ist uns im Grunde wohlvertraut, solange wir auf bestimmte, unumstrittene Beispiele wie Kain und Abel schauen. Oder, um aktuelle Beispiele anzuführen, wer würde es hinnehmen, wollte,sich ein Anhänger der Apartheid, ein KZ-Aufseher, ein Bordellbesitzer, der Inhaber einer Abtreibungsklinik, der Entführer eines Kindes auf seine „Gewissensentscheidung“ berufen? Wer wäre bereit zu sagen: Man muß die „Gewissensentscheidung“ Eichmanns respektieren?

Bei strittigen Fragen allerdings beruft man sich gerne auf das Gewissen wie auf eine wohlbekannte, allen Ansichten nochmals übergeordnete Instanz: etwa wenn es um die Methoden der Empfängnisregelung geht, um Geschlechtsverkehr, der nicht in einer Ehe stattfindet, um künstliche Befruchtung und andere Fragen dieser Art. Aber, das und nur das soll hier gesagt werden, diese Art der Berufung ist eine Ausrede und Verdrängung. Es wäre, das haben die Beispiele gezeigt, widersinnig zu sagen: Die Kirche verkündet zwar Gottes Gebot (etwa bezüglich des Rassismus), aber was dann letztlich zu tun ist, entscheidet das Gewissen (des einzelnen Nazis).

Wählt man ein heute aktuelles und umstrittenes Beispiel, müßte der Widerspruch ehrlicherweise so formuliert werden: „Die Kirche irrt in ihrer Behauptung, Gottes Gebot binde den Geschlechtsverkehr an die Ehe. Dieser wird bereits durch die Liebe hinreichend legitimiert.“ Erst wenn (zu Recht oder zu Unrecht) entschieden ist, was das Gebot Gottes besagt, tritt das (recht informierte oder irrige) Gewissen auf den Plan.

Dasselbe gilt — um ein noch aktuelleres Beispiel zu wählen - für die Empfängnisregelung: Die Frage ist nicht, ob sich die Menschen nach dem Gewissen richten sollen. Das versteht sich von selbst. Umstritten ist vielmehr, ob der Papst recht hat, daß die Entscheidung für die künstliche Verhütung objektiv eine Sünde ist und ein Gewissen, das sie bejaht, daher als „irrig“ bezeichnet werden muß; oder ob die Wahrheit bei jenen liegt, die meinen, die „sittlich entscheidende Grenze“ verlaufe dort, „wo menschliches Leben schon entstanden ist“ — sodaß auch eine Pillen-, Kondom-, Pes-sar-Entscheidung zur Empfängnisverhütung sittlich einwandfrei sein könnte.

Der Autor ist Oblate des Heiligen Franz von Sales, Moraltheologe und Generalsekretär der Wiener Katholischen Akademie.

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