6822367-1973_44_09.jpg
Digital In Arbeit

„Sein heißt: unterwegs sein“

Werbung
Werbung
Werbung

Mit dem Aufkommen der neuen Methoden der Formalisierung in den modernen Naturwissenschaften ist die Philosophie in Verlegenheit geraten. Sie will ihre „Wissenschaftlichkeit“ nun dadurch retten, daß sie mit den gleichen Methoden zu arbeiten versucht. Ein Versuch, der ohne Zweifel von großem Nutzen ist, wenn es um die Kontrolle der Gedankengänge geht. Doch sind die Naturwissenschaften heute selbst in Verlegenheit geraten, wenn sie ihren Anspruch auf unbedingte Exaktheit revidieren, wenn nicht gar aufgeben mußten. Gerade auf dem exaktesten Gebiet der Atomphysik hat die Wende eingesetzt. Ihre Sätze werden zu Beschreibungen, zu tastenden Versuchen eines kritischen Ratens (Popper), die neu entdeckten Wirklichkeiten zu interpretieren und dadurch ein neues Verhältnis zu Wirklichkeit und Wahrheit zu gewinnen.

Die nie auszuklammernde Subjektivität, der schöpferische Funke, den wir Intuition nennen, gehört zum Wesen menschlichen Forschens, so „unwissenschaftlich“ das auch klingen mag. Und hier stehen wir bei Gabriel Marcel. „Der existentielle Grund der menschlichen Würde besteht in der Relation zum Schöpferischen, indem man irgendwie schöpferisch tätig ist, selbst auf der bescheidensten Ebene“ (Die Menschenwürde und ihr existentieller Grund). Philosophieren heißt für Gabriel Marcel nicht bloß ein methodisches Durchformaiisieren der Probleme, sondern ursprüngliche Fragen stellen nach den Möglichkeiten des Lebens und Existierens, nach dem Sinn allen Treibens. Diese Fragen müssen grundsätzlich allen Menschen, gleich welchen Standes, zugänglich und beantwortbar bleiben,

nicht bloß einer wissenschaftlich geschulten Elite. Das charakterisiert seinen Denkstil.

Nicht vom hohen Roß des Wissenschaftlers geht er diese Fragen an, sondern von einer unmittelbaren und ursprünglichen Kon-frontierung mit dem alltäglichen Leben. „Der Mensch, das ist eine Frage für den Menschen“, wie ein Essay von ihm heißt. Daher versuchte man Marcel auch als Exi-stentialisten zu bezeichnen. Das hörte er nicht gern. Im „Geheimnis des Seins“ spricht er lieber von einer sokratischen Methode, einer Neusokratilk, die ihn charakterisiere. Gemeint ist eine geistige Haltung, des ununterbrochenen Fragens, Forschens, ja auch Improvisierens, eines beweglichen Geistes, der Freude am Finden und Entdecken hat, keine fixen Doktrinen und Systeme liefert. Welchen Charme — das Wort wird überlegt gesetzt — ein solches Denken ausstrahlt, bewies einer der letzten Vorträge Marcels in Wien auf der Universität, wo er am Schluß seines Referates eingestand, das Probien! noch nicht ganz bewältigt zu haben und er daher noch weiterdenken müsse, um neue Entdeckungen zu machen. Der Franzose Gusdorf nennt ihn daher einen Philosophen der Frage, den in Frage gestellten, den in der Welt peinlich befragten Philosophen.

„Ich halte dafür, daß wir uns an die gängigen volkstümlichen Formen der Sprache halten müssen, welche die Erfahrung, die sie zu übersetzen vorgeben, unendlich viel weniger entstellen als die künstlichen Ausdrücke, in denen die philosophische, Sprache sich kristallisiert. Das elementare, der Erde nächste Beispiel ist auch das aufschlußreichste.“ Marcel entwickelt also in einem denkenden, sich bewußt werdenden

Sprechen, was er mit Blondel „pensee pensante“ nennt, seine Gedanken. Er läßt den Leser oder Hörer unmittelbar daran teilnehmen, ja bezieht ihn mit ein. Man wird von ihm an das Thema engagiert.

Es geht ihm darum, die geistige „Schlaftrunkenheit“ zu überwin-

den, die auch höchst rational entwickelte Begrifflichkeiten anfallen kann, weil perfektionierte Begriffe, gar wenn sie nur noch zu Buchstaben geworden sind, den Geist, sein Leben, das nie von der Subjektivität und der konkreten Situation unbeeinflußt bleibt, ertöten. „Auf der Suche nach der Wahrheit und Gerechtigkeit“ zieht er dann ganz konkrete Schlüsse, um diese Schlaftrunkenheit in unserer reglementierten, sauber eingerichteten Umwelt eines humanitären Wohlfahrtsidols aufzuzeigen. Ein Analphabet oder ein Alkoholiker hat dasselbe Wahlrecht wie ein Profes-

sor, Arzt oder Beamter? Sicher nicht. Das Wort Gerechtigkeit wird hier in einem abgewerteten Sinn benutzt, wird zu einer Frage der Gleichheit herabgewürdigt, wie eine Mutter unter den mißtrauisch kontrollierenden Augen der Kinder den Kuchen gleich aufteilt; „auf dieser Ebene werden Worte wie Gerechtigkeit und Wahrheit in der Gefahr stehen, jeden Inhalts entleert zu werden“. Keine Zahl oder Mehrheit kann Wahrheit ermitteln, weil es unmöglich ist, „den Menschen, seinen spirituellen Charakter wie Steine oder Holzscheite zu addieren“. Aus lebendigen Situationen, die sich in ihrem Reflektiertwerden der Gebundenheit an das Konkrete bewußt bleiben, entwickelt, wickelt Marcel aus, was er an Wesentlichem im Menschen (Wahrheit und Gerechtigkeit, Tod und Unsterblichkeit, Wissenschaft und Weisheit) entdeckt. Von daher erklärt sich auch, daß er viele seiner Gedankengänge in Theaterstücke gefaßt hat, „in ihnen liegt der einmalige Beitrag, was auch immer der innere Wert meiner Stücke sein mag, in dem ich mich am Ende meines Lebens selbst am besten erkenne“.

1929 konvertierte er zum Katholizismus. Das war ihm kein sicherer Hafen, wie das „Metaphysische Tagebuch“ offenbart. „Sein heißt unterwegs sein.“ Zeit als Versagen, Tod als Abgrund, Versinken, Zugrundegehen sind Worte, die immer wieder eine Rolle spielen. Aber das Wandern ist kein Vagabundieren, es ist verbunden mit einer Hoffnung, „der geheimen Spannkraft des wandernden Menschen“. Wenn er einmal das Sein als den Ort der Treue bezeichnet, finden sich darin sein philosophisches wie gläubiges Bemühen. Treue als authentische Treue verstanden, das heißt auf Grund authentischer und nicht bloß erborgter Erfahrungen als Ersatz für das eigene Erleben, ist eine aktive Anerkennung eines Bleibenden, letztlich eines Du-Gottes, ist ein schöpfe-

rischer Akt in höchster Präsenz und Gegenwärtigkeit des Verste-hens und Wollens, im 'Gegensatz zu einem bloßen formalen Gesetz, das zum Bleiben verpflichtet, was zu einer Trägheit der Seele, zu einem Bleiben auf Grund des Trägheitsgesetzes werden kann.

Nur ein Theaterstück sei erwähnt: „Ein Mann Gottes.“ (Schade, daß man sich dieser Theaterstücke zuwenig annimmt.) Es zeigt den schmerzhaften Durchbruch eines authentischen Denkens und Liebens durch die Schemata eines offiziellen, sozusagen beruflichen Denkens, das man sich als Ohrist schuldig zu sein glaubt. Solcher Schemata gibt es viele und immer neue, auch die Progressiven sind davor nicht bewahrt, weil sie meinen, der Fortschritt bestünde im Auswechseln alter gegen neue Schemata. Marcel geht es hier um die christliche Liebe schlechthin, zu der er durchzustoßen versucht, also um viel Grundsätzlicheres: „Wenn der Dramatiker eine Lösung zeigt, überschreitet er seinen Auftrag. Wuchtig ist, daß das Aufklären einer fast ausweglosen Situation im Lichte einer Wahrheit versucht wird, die von der Liebe nicht zu trennen ist. Ich habe keine' Furcht, zu sagen, daß der Schluß des Stückes nonkonformistisch ist, daß er diejenigen aufregen soll und muß, die den Glauiben haben, man könne sich in starre Formeln einschließen.“

Über einen solchen Denker wie Marcel zu sagen, er sei überholt, nicht mehr aktuell — wie man das heute gern dem Existenzla-lismus gegenüber tut, um sich seinen Fragen zu entziehen —, Ist absurd, der Mensch bleibt immer „aktuell“ und jede große Philosophie hat ihre unverlierbaren Aktualitäten, denen sich keine kommende Zeit entziehen kann. Liegt aber nicht gerade im Vorwurf dieser angeblichen Unaktualität nahezu der Beweis für höchste Aktualität?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung