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Die Totgesdiwiegene

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In den Jahren nach 1945 wurde sehr viel über das Thema „Verwaltungsreform“ geschrieben und gesprochen. Politiker, Wissenschaftler und Verwaltungspraktiker legten damals in überzeugenden Worten die dringende Notwendigkeit einer gründlichen Verwaltungsreform dar; ja selbst in Regierungserklärungen und Parteiprogrammen kehrte die Forderung nach einer Verwaltungsreform immer wieder.

Seither .sind einige Jahre ins Land gegangen, und um die Parole „Verwaltungsreform“ ist es merkwürdig still geworden. Wohl werden da und dort noch gelegentlich Reformwünsche zu einzelnen Sektoren des staatlichen Lebens angemeldet, so zum Beispiel die Forderung nach einer Reform des Steuersystems oder das Verlangen nach einer Neuordnung unseres Sozialversicherungswesens. Doch der seinerzeit so gewaltige Ruf nach einer u m- fassenden Reform des ganzen staatlichen Apparates ist gänzlich verstummt.

Worauf ist dieser Wandel zurückzuführen? Haben sich vielleicht die Verhältnisse im Leben unseres Staates seit 1945 so sehr gebessert, daß eine Verwaltungsreform heute gänzlich überflüssig geworden ist? Hier sei zunächst zugegeben, daß viele kriegs- und nachkriegsbedingte Mängel inzwischen behoben und manche Kinderkrankheiten, die dem damals erst wieder im Entstehen begriffenen neuen Staatswesen anhafteten, seitdem beseitigt wurden. Auch mag auf zahlreichen Gebieten des staatlichen Lebens das Unterlassen umfassender Reformen darauf zurückzuführen sein, daß wir heute immer noch ein besetztes Land sind, das in seinen Entschlüssen nicht frei ist.

In • vielen Lebensbereichen scheint mir jedoch der Hinweis auf die Besatzungsmächte und auf den noch immer ausstehenden Staatsvertrag doch nur eine faule Ausrede zu sein. Wer hindert uns beispielsweise daran, unsere G e se tzgebungstechnik zu verbessern und die Massenflut neuer Gesetze einzudämmen? Wurden doch seit Mai 1945 bis Ende 1953 allein im Bundesgesetzblatt 2200 Rechtsvorschriften kundgemacht, von denen übrigens im gleichen Zeitraum bereits 588 wieder abgeändert, aufgehoben oder gegenstandslos wurden. Diese Gesetzesinflation ist darauf zurückzuführen, daß bei uns in der Gesetzgebung eine weitgehende Zersplitterung Platz gegriffen hat, indem jede Neuerscheinung des Lebens für sich und individuell in Angriff genommen wird, was zur Schaffung neuer Gesetze, Verfahren und Behörden führt. Diese kasuistische Gesetzgebung ist aber gerade für das Wirtschaftsleben, das möglichst einfache und übersichtliche Rechtsnormen erfordert, besonders nachteilig.

Es ist nicht Beruf des Gesetzgebers, die Kompliziertheit des modernen Lebens durch verworrene und widerspruchsvolle Gesetze noch zu vergrößern; er hat vielmehr im Gegenteil dahin zu wirken, daß das Dasein durch gesetzliche Regeln übersichtlicher und einfacher gestaltet wird. Zur Einfachheit gelangt aber die Arbeit des Gesetzgebers nicht durch eine weitschweifige und Unübersichtliche Kasuistik, sondern durch Herausarbeitung der leitenden allgemeinen Rechtsgedanken, während die Meisterung von Detailfragen ruhig einer verständnisvoll sich einfühlenden und elastisch sich anpassenden Praxis überlassen werden kann.

Mit Recht hat kürzlich ein deutscher Richter (H ü 1 s m a n n) darauf hingewiesen, daß es eine Manie unserer Zeit sei, jede Lücke des gesellschaftlichen und privaten Seins aus Sicherheitsgründen gesetzlicher Regelung zu unterwerfen. Dadurch wird der Richter in strenger Bindung an das Gesetz zum bloßen Handlanger der Justizmaschine herabgewürdigt, mit dem Ergebnis, daß von dem eigentlichen Gehalt persongebundenen Rechtes nichts mehr übrigbleibt. Aus dem Rechtsstaat ist ein Gesetzesstaat geworden, aus einem aus dem Recht schöpfenden Richter ein bloßer Funktionär des, Staatsapparates oder, wie Zeiller einst sagte, eine das „Recht sprechende Maschine“.

Auf allen Gebieten des Rechtes wimmelt es von komplizierten Regelungen und verwickelten Anordnungen. Ist es nicht ein heller Wahnsinn, daß der Mietzins unserer Wohnungen heute zu ‘einem Großteil noch immer auf der Basis des Friedenskronenzinses 1914 errechnet wird? Dabei ist diese Berechnung noch verhältnismäßig einfach gegenüber den Rechenkunststücken, die bei Feststellung einer Sozialversicherungsrente vollbracht werden müssen, wobei eine solche Fülle von Multiplikatoren und Zuschlägen anzuwenden ist, daß heute nicht nur der gewöhnlich Sterbliche, sondern auch ein mit dieser Rechtsmaterie nicht besonders vertrauter Jurist eine Sozialversicherungsrente auch nicht einmal annähernd errechnen kann. Vor kurzem ist erst in einer westdeutschen Parlamentsdebatte behauptet worden, e s gebe im ganzen deutschen Bundesgebiet nur sechs Männer, die sich im Sozialrecht noch gründlich auskennen. Da wir auf diesem Rechtsgebiet vielfach noch dieselben Rechtsvorschriften haben, kann man sich ungefähr ausrechnen, wie viele oder — besser gesagt —

wie wenige wirkliche Kenner dieser Rechtsmaterie Oesterreich besitzt.

Auch auf dem Sektor des Besoldungsrechtes ist es nicht besser. Früher einmal konnte jeder bessere Schneidermeister im Amtskalender nachlesen, welches Jahresgehalt der Herr k. k. Oberbaurat, seine werte Kundschaft, ‘ bezieht. Heute vermag jedoch nicht einmal der Herr Oberbaurat selbst sein Gehalts auszurechnen, weil das Gehaltsverrechnungswesen mit seinen zahlreichen Koeffizienten, Zuschlägen und Sonderzulagen eine Wissenschaft für sich geworden ist.

Ebenso plagen wir uns im Steuerrecht mit den alten Einheitswerten aus dem Jahre 1940 ab. Wir müssen hierbei gelegentlich der Errechnung der Schenkungsund Grunderwerbsteuer sechs verschiedene Multiplikatoren anwenden, wogegen für die Vermögenssteuer nach einem eben fertig-gestellten Gesetzesentwurf wieder andere

Multiplikatoren eingeführt werden sollen.

So sind in unserem Dasein zahlreiche alltägliche Feststellungen, wie die Ermittlung von Mietzinsen, Gehältern, Altersrenten, Steuern usw., nur mit Hilfe höchst komplizierter Rechenoperationen unter Verwendung von Multiplikatoren, Koeffizienten, Steigerungsbeträgen, Teuerungszulagen, Sonderzuschlägen u. dgl. möglich, wodurch unser gesamtes Wirtschaftsleben durch unnötige Verwaltungsarbeit in höchstem Maße belastet wird.

Solche Beispiele veralteten Ballastes, der in unseren Gesetzen noch immer mitgeschleppt wird, ließen sich noch viele anführen. Es sei jedoch wegen der besonderen Bedeutung des betreffenden Uebelstandes nur noch darauf hingewiesen, daß auch unser Strafgesetz mit einer Menge vorsintflutlicher Bestimmungen belastet ist, die in einem modernen Gesetzbuch wirklich nichts mehr zu suchen haben. Gelten doch zum Beispiel in einem Zeitalter fortgeschrittenster Technik Straßenbahnen gemäß der Anschauung von 1852 immer noch als „besonders gefährliche Einrichtungen“ (§ 85 StG). Wer daher beispielsweise seinen" Kraftwagen aus Ungeschicklich keit so aufstellt, daß das Trittbrett einer vorbeifahrenden Straßenbahn leicht beschädigt wird, wobei vielleicht ein etwa zwei Zentimeter breiter Holzspan absplittert, ist bei uns — auch wenn dabei niemand in seiner körperlichen Sicherheit konkret gefährdet wurde — gemäß § 318 StG wegen einer aus schuldbarer Nachlässigkeit erfolgten Beschädigung eines im § 85 lit. c) StG erwähnten Gegenstandes mit Arrest von einem bis zu drei Monaten gerichtlich zu bestrafen.

Auf solche Weise können angesehene Leute, welche auf mehrere Jahrzehnte eines höchst ehrenhaften und unbescholtenen Lebenswandels zurückblichen können, im Handumdrehen zu einer gerichtlichen Strafe kommen. Nun werden vielleicht manche solche Fälle bagatellisieren und möglicherweise einwenden, daß es sich hier um ein keineswegs ehrenrühriges Delikt handle, das noch dazu unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes meist nur mit einer geringfügigen Geldstrafe geahndet werde. Solche Kritiker mögen bedenken, daß es bei uns — Gott sei Dank — immer noch Menschen gibt, die darauf Wert legen, in jeder Hinsicht makellos dazustehen, so daß sie es als unerträgliche Kränkung empfinden, wegen solcher Handlungen gerichtlich abgestraft zu werden.

Wir bringen heute einer solchen Einstellung meist nur deshalb nicht mehr das nötige Verständnis entgegen, weil wir immer noch zu sehr unter dem Einfluß einer rein intellektuellen Aufklärung stehen, die die moralischen Fragen in ihrer Bedeutung für das gesamte gesellschaftliche Leben unterschätzt. Es ist aber nun einmal so, daß die aufgezeigten Unzulänglichkeiten, Komplikationen und Verknöcherungen unseres Staatswesens von vielen Mitbürgern nicht nur als Unannehmlichkeit und Schikane, sondern auch als schwere seelische und moralische Belastung empfunden werden, deren Aufrechterhaltung die allgemeine wirtschaftliche Entfaltung aufs schwerste hemmt, aber auch die staatsbejahende Haltung zahlreicher Staatsbürger ernstlich gefährdet. Die eheste Beseitigung vieler Mängel und Hindernisse der Entfaltung eines gesunden staatlichen Lebens läge daher nicht nur im Interesse des unter diesen Verhältnissen schwer leidenden Staatsvolkes, sondern gereichte vielmehr auch dem Staate selbst zum Woble.

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