Religionen heute - viele Zukünfte?

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Religionen spiegeln zwei fundamentale Grunderfahrungen des Menschen wider: das Leiden und die Ekstase. Das wird bleiben -auch wenn sich die Perspektiven der Religionen ganz und gar nicht eindeutig darstellen.

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Religionen spiegeln zwei fundamentale Grunderfahrungen des Menschen wider: das Leiden und die Ekstase. Das wird bleiben -auch wenn sich die Perspektiven der Religionen ganz und gar nicht eindeutig darstellen.

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Zukunftsangst geht um. Welches Leben wird möglich sein? Verschiedene Zukünfte sind denkbar: Menschen entwickeln Sehnsüchte nach Gewissheit und Verlässlichem, vor allem wenn das Tempo der Zeit zunimmt und einst sichere Behausungen brüchig werden. Wenigstens die Religion soll ein sicherer Hafen sein. Dieser Wunsch aber läuft ins Leere. Denn: Religionen sind geschichtlich entstanden und in ständiger Veränderung begriffen. Ihre Gestaltungen entsprechen den historischen Zuständen in Politik und Wirtschaft - von antiken Stadtstaaten über Territorialstaaten zu kolonialistischen Imperien und heutigen globalisierten Wirtschaftskreisläufen. Wie die fernere Zukunft diesbezüglich aussehen wird, wissen wir nicht, aber die Prozesse, die die technische Entwicklung ebenso wie die ökologischen und demografischen Veränderungen hervorrufen, werden dramatisch sein. Ob die Menschheit die gegenwärtigen Krisen überleben wird? Religionen und ihre Fähigkeit zur Veränderung spielen dabei jedenfalls eine gewichtige Rolle.

Was sich verändert hat, wird sich auch weiter verändern. Schon das Christentum oder der Buddhismus sind heute weit entfernt von der Gestalt ihrer Ursprünge. Es ist durchaus möglich, dass die Religionssysteme, wie wir sie heute kennen, verschwinden werden. Dies wird aber nicht dazu führen, dass die religiöse Dimension des Menschlichen keinen Ausdruck mehr fände. Warum? Weil das Religiöse eine mit der Evolution entwickelte Gegebenheit ist. Anthropologisch wurzelt Religion in der schöpferischen Fantasie des Menschen, und diese ist die Voraussetzung für Kultur. Lebewesen (nicht nur der Mensch) sind bestrebt, sich ändernden Bedingungen in ihrer Umwelt anzupassen, Voraussetzung dafür ist der Vergleich des Ist-Zustandes mit einem möglichen besseren Zustand. Bereits die Pflanze dreht sich zur Sonne. Der Mensch entwirft Modelle von Zuständen, die er als optimaler gegenüber seinen Lebensbedingungen empfindet. Alle Kultur kreist um den Entwurf und die Erprobung solcher Modelle. Religionen sind dadurch ausgezeichnet, dass sie im Mythos und Ritual, in Erzählungen und begrifflichen Systembildungen (Theologien) Modelle des Ganzen entwerfen und rituell inszenieren. Sie halten die Sehnsucht nach dem Besseren, nach der Vollendung wach.

Vier Dimensionen der Religionen

Dabei spielen vier Dimensionen eine Rolle: die mystagogische, durch die deutlich wird, dass der Dynamik der Wirklichkeit ein unerschöpfliches Potenzial, ein Mysterium, zugrunde liegt; die kosmologische, wodurch der Mensch begreift, dass dieses Mysterium (das Göttliche) in jeder Form des Universums, in jeder Lebenswirklichkeit präsent ist; die sozial normative, die die Erkenntnisse und Vermutung über die universale Gesetzmäßigkeit in der Ordnung der Gesellschaft installieren will; und die pädagogische, durch die der Mensch Vorbilder und Modelle für seine Lebensgestaltung und Lebenserfüllung findet.

Religionen spiegeln zwei fundamentale Grunderfahrungen des Menschen wider: das Leiden und die Ekstase. Religionen kompensieren Leiden, sie versuchen, die Leiderfahrungen des Menschen in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Ekstatische Erfahrungen in der Natur, der Musik, der Erotik, im Sport usw. lassen den Menschen über sich selbst hinauswachsen: er wird ergriffen, die Erfahrung des Außergewöhnlichen verschiebt den gewöhnlichen Wahrnehmungshorizont. Tiefstes Glück ist die Folge. Solche Erfahrungen wird es immer geben. Sie werden das Gesamtbild des Menschen von sich und der Welt prägen. Ob dies in "Religionen" kodiert werden muss, ist eine andere Frage.

Die heutigen "Weltreligionen" (Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Judentum, Christentum, Islam) verdanken ihre Entstehung bestimmten historischen Kontexten, sie haben neue Synthesen aus ganz unterschiedlichen Vor-Überlieferungen geschaffen. Sie vermitteln zwischen den Interessen des Individuums und gesellschaftlichen Ansprüchen.

Sie grenzen sich voneinander ab, denn sie sprechen unterschiedliche Sprachen und nehmen die Welt durch ihre jeweilige Brille wahr. Trotz vieler Gemeinsamkeiten z.B. in der Ethik ("Liebe Deinen Nächsten") sind sie auch verschieden in ihren Erzählungen, ihrem Menschenbild, ihrer Geschichtserfahrung. Sie repräsentieren unterschiedliche Möglichkeiten des Menschseins.

Die gegenwärtige und wohl auch zukünftige Entwicklung der Religionen wird von drei widersprüchlichen Tendenzen angetrieben, deren jeweiliges Gewicht auch von politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren abhängt.

Angesichts der Globalisierung der Welt durchdringen Religionen einander wie nie zuvor. Es gibt religiöse Doppelbürgerschaft, d. h. Menschen verwurzeln sich in mehreren Religionen gleichzeitig. Manche versuchen, daraus ein konsistentes Weltbild zu formen, für andere bleiben die Unterschiede nebeneinander stehen: Was als heilend und weiterführend erlebt wird, solle gelten, denn das tiefste Geheimnis der Welt bleibe ohnehin verborgen. Erkenntnis sei zwar möglich, aber sie komme nie an ein Ende. In diesem Sinne wächst eine weltweite "Mystik" heran, Spiritualität jenseits von Lehrsätzen und abgrenzenden Ritualen wird wichtig.

Widersprüchliche Entwicklungen

Gleichzeitig erleben wir erbitterte Ab-und Ausgrenzungen: Es entsteht Fundamentalismus, weil Menschen Identität suchen, und das bedeutet immer auch, "anders" sein zu wollen oder zu müssen. Religion wird zum Rückzugsort ins Lokale, vor allen dort, wo das Tempo der globalisierten Vereinheitlichung oder "Verwestlichung" durch turbokapitalistische Wirtschaftskreisläufe und die Ohnmacht der Politik als bedrohlich erfahren wird. Religionen etablieren sich dann als Alternative zu einer allmächtig erlebten Technokratie und zur globalen Religion des Konsums. Und das, indem sie selbst durch die moderne Technik und die modernen Kommunikationssysteme ihre Heilsbotschaften verkünden. Sie versprechen einfache Orientierung in einer Welt unüberschaubarer Komplexität. An diesem Widerspruch scheitern sie immer wieder, aber gerade darin werden sie attraktiv. Rückzug von der Komplexität der Welt suggeriert Angebote von einfachen Deutungen durch Autoritäten. Er bietet die Bequemlichkeit der Unfreiheit.

Menschen in allen Teilen der Welt und quer durch die klassischen Religionen hindurch verbinden sich zu Netzwerken, die aus dem Geist der Religionen eine neue Verantwortung für die leidenden Mitmenschen und die Mitwelt überhaupt wahrnehmen wollen - eine Solidarität über Grenzen hinweg, die in einem ökosophischen Bewusstsein gründet - in der Weisheit der Religionen, nach der alles Leben voneinander abhängig ist oder miteinander zusammenhängt, weil alles aus einer einzigen Quelle kommt, die manche "Gott" nennen und andere lieber als Mysterium verehren und unbenannt lassen. Es ist die veneratio vitae, die Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweitzer). Hier sollen die alten Bilder und Hoffnungen der Religionen fruchtbar gemacht werden für ein neues Bewusstsein der Einheit der Menschheit. Das Ritual ist primär nicht der Gottesdienst im Tempel, sondern das Engagement auf der Straße.

Mit diesen widersprüchlichen Entwicklungen muss die Menschheit leben. Sie sind es, die unterschiedliche Zukünfte bescheren. Die Details freilich und die Wechselwirkungen sind unvorhersehbar. Ob es zu einer neuen Stufe der Evolution kommt, auf der Wissenschaft und Mystik, Vernunft und Spiritualität, Politik und soziale Verantwortung in einer Weltkultur einander fruchtbar durchdringen, wissen wir nicht. Aber auch dann wird es Differenzen geben. Denn Differenz ist der Motor der Evolution, der biologischen wie der geistigen.

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