Das Protokoll eines geistigen Verfalls

Werbung
Werbung
Werbung

Am Landestheater Linz fand die österreichische Erstaufführung von Detlev Glanerts "Nijinskys Tagebuch“ statt. Es wurde zurecht ein großer Erfolg.

Es ist ein bewegendes Musiktheaterstück über Abstieg und Ende des genialen, weltberühmten russischen Ballett-Tänzers Waslaw Nijinsky (1889-1950). Im Besonderen wurde er für seine phänomenale Sprungtechnik gerühmt, denn niemand zuvor hatte es verstanden, weibliche Anmut und männliche Kraft in so unglaublich sinnlichen Bewegungen zu vereinen. Mitunter schien es, als könne er kurze Zeit in der Luft stehen bleiben und dann erst sanft zu Boden springen.

"Gott des Tanzes“

Nicht vergessen werden sollte, dass der in Kiew geborene Waslaw Nijinsky in der kurzen Zeit seiner tänzerischen Laufbahn Bedeutendes geleistet hat, so als Choreograf und zentrale Figur der "Ballets Russes“, die unter ihrem legendären Impresario Sergej Diaghilew in den 1910er-Jahren die Welt des Tanzes revolutionierten und weltweit Begeisterung auslösten. Nijinsky firmierte als "Gott des Tanzes“ - von seiner Biografin und Gattin so bezeichnet - ein Ehrentitel, den ihm niemand streitig machte. Einige Jahre später verstieß ihn Diaghilow und löste damit seinen tragischen Abstieg vom Gipfel des Ruhms aus. Symptomatisch sein Gedicht:

"Ich bin Nijinsky. / Nijinsky, das bin ich. / Ich will nicht, dass man Nijinsky weh tut, darum werde ich ihn beschützen. / Ich fürchte um ihn, denn er fürchtet um sich. / Er ist ein guter Mensch. / Ich bin ein guter Gott. / Ich mag keinen schlechten Nijinsky. / Ich mag keinen schlechten Gott. / Ich bin Gott. / Nijinsky ist Gott. / Nijinsky ist ein guter und kein schlechter Mensch.“

Mit seiner Musik hat der erfolgreiche und mehrfach ausgezeichnete deutsche Komponist Detlev Glanert (Jahrgang 1960), ehemals Kompositionsschüler von Hans Werner Henze, die Nöte und Leiden Nijinskys, dem nur eine kurze Weltkarriere vergönnt war, dessen geistigen Verfall nachgezeichnet und "hörbar“ gemacht. "Das Faszinierende dieser Tagebücher ist ihr Protokollcharakter, als Kommentar schon im Augenblick der Niederschrift“, unterstreicht Glanert, einer der am häufigsten aufgeführten Opernkomponisten der Gegenwart.

Er hat sich dieses Textes angenommen und ihn zur Grundlage eines außergewöhnlichen Musiktheaterwerks gemacht. Insgesamt sechs Darsteller aus den Sparten Oper Schauspiel und Tanz, jeweils männlich und weiblich besetzt, sind gemeinsam Nijjinsky, bilden gemeinsam die innere Stimme des Künstlers.

Wie aber lassen sich die Defizite, Sehnsüchte, Wahnvorstellungen, Wünsche und Traumata dieses unglücklichen Menschen namens Nijinsky in Sprache, Dialoge, Bühnenspiel, Musik und Gesang etwa fassen, wie ausdrücken, wie aus dem Papier des Tagebuchs lebendig machen? Und doch gelang es. Nijinsky hatte 1919 vor dem offenen Ausbruch seiner Krankheit und trotz Einweisung in eine geschlossene Abteilung über sechs Wochen wie im Rausch ein Tagebuch geschrieben.

Vielschichtiger Monolog

Carolyn Sittig hat diese authentische Quelle zu einem Libretto in der deutschen Übersetzung von Alfred Frank verdichtet - und Glanert hat daraus ein zwischen Sprache, Gesang und Orchester wechselndes Stück Musiktheater komponiert. Der auf verschiedene Akteure aufgeteilte, von kurzen Orchesterpassagen strukturierte, gesungene, gesprochene, geflüsterte oder auch herausgeschriene Monolog speist sich aus dieser bio-grafisch authentischen Quelle.

Diese Produktion ist kein "Spaziergang“! Dem gesamten Team mit Ingo Ingensand (Musikalische Leitung), der Engländerin Rosamund Gilmore (Inszenierung), Nicola Reichert (Bühne und Kostüme) gebührt ein lautes "Bravissimo“. Zum guten Schluss sei der Wunsch übermittelt, dass der Erfolg in Bregenz ein ähnlich großer sein möge.

Weitere Termine

26. April, 21. Mai

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung