Die EU auf dem Boulevard

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Ein Land, in dem die Herrschenden mit dem Volk, wie auch miteinander, vornehmlich über offene Briefe an den Herausgeber einer Boulevardzeitung kommunizieren, befindet sich zweifellos in einem demokratiepolitisch bedenklichen Zustand. Im allgemeinen Aufheulen über den missglückten Anbiederungsversuch des Damals-Noch-Weiter-Bundeskanzlers (der seine Demission freilich mit der Absage des Kanzlerfestes schon eingereicht hatte) kam die Analyse zu kurz: Ja, die penetrante Anti-EU-Kampagne der Kronen Zeitung ist kaum erträglich. Aber dazu konnte es nur kommen, weil eine seriöse, differenzierte Kritik an der europäischen Politik hierzulande nicht stattfindet. Weder in der Koalition noch innerhalb der Opposition noch unter Intellektuellen wird die Entwicklung in Brüssel (die naturgemäß eine in Wien ist) ernsthaft diskutiert. Das Versagen in der Verkehrs- bzw. Transitpolitik, im Klimaschutz, im Tierschutz oder in der Lebensmittelkontrolle wird nicht als Symptom eines fundamentalen Problems - des absoluten Primats der Ökonomie - beim Namen genannt. Selbst die Grünen haben, seit ihre Funktionäre in Brüsseler Gremien verankert sind, die Glacéhandschuhe angezogen.

Die Laxheit in Überlebensfragen kaschiert man durch eine kitschige Europa-Phraseologie. Kein Wunder, dass die Unzufriedenheit mit der Zwangsbeglückung wächst: Der Boulevard ist das logische Ventil für tabuisiertes "Gesudere". Dass die Regierungen Frankreichs und der Niederlande, die bei ihren Wählern mit der ersten EU-Verfassung abgeblitzt sind, über die zweite erst gar nicht mehr abstimmen ließen, dass man über das Nein der Iren als eine Art Betriebsunfall hinweggehen wollte, lässt tief blicken. Nur weil Herr Dichand trommelt, dass "die in Brüssel" auf allzu hohem Ross sitzen, heißt das noch nicht, dass das nicht stimmt.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin in Wien.

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