Im Lager - in der Stadt

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Braunau am Inn - Lavarone: Der Erste Weltkrieg schafft die Verbindung zwischen der Innviertler Stadt und dem Trentiner Bergdorf Lavarone. Die Bevölkerung des Ortes wurde zwischen 1915 und 1918 nach Braunau in ein Lager deportiert. von veronika thiel

Es gibt in Braunau Familien, die Bertoldi heißen. Genau wie die Bewohner des Ortsteils Bertoldi in Lavarone", erzählt Florian Kontanko, Direktor des Gymnasiums in Braunau am Inn und Kenner des Trentiner Ortes Lavarone und dessen Geschichte. Die zwei Weltkriege des letzten Jahrhunderts haben nicht nur die Gestalt der europäischen Landkarten völlig verändert, sie haben auch das Leben von Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen des Kontinents miteinander verflochten. Die Familiengeschichte der Innviertler Bertoldis geht auf die Deportation der Trentiner Bevölkerung im Ersten Weltkrieg zurück.

Der Hochebene von Lavarone kam in den Kriegsplanungen des österreichisch-ungarischen Generalstabes als "befestigte Zone" ein besonderer Stellenwert zu. Conrad von Hötzendorf, der österreichische Generalstabschef ließ, überzeugt, dass Italien seinen Bündnisverpflichtungen gegenüber Österreich nicht nachkommen würde, in der Zeit zwischen 1907 und 1914 eine ganze Reihe moderner Festungen auf den Hochebenen von Folgaria und Lavarone errichten. Die Befestigungen dienten einerseits der Abwehr eines befürchteten italienischen Angriffs und andererseits als Schutz für den österreichischen Aufmarsch. Die Festung "Werk Gschwent-Belvedere" im Gemeindegebiet von Lavarone ist auch heute noch sehr gut erhalten und beherbergt mittlerweile ein Kriegsmuseum.

Zehntausende deportiert

Nach der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 wurde das Grenzgebiet zwischen den zwei Staaten zum Kriegsschauplatz. Nahezu die gesamte restliche Bevölkerung, bestehend aus Kinder, Frauen, alten Männern und der Geistlichkeit - die meisten wehrfähigen Männer waren bereits eingezogen worden -, wurde innerhalb kürzester Zeit evakuiert. "Es waren dramatische, ja sogar tragische Ereignisse. Die Lavaroner mussten alles zurücklassen - Häuser, Vieh, Äcker, ihr gesamtes Hab und Gut - und fuhren, auf Güterzügen geladen, ins Ungewisse", erzählt Aldo Marzari, der heutige Bürgermeister von Lavarone. Florian Kontanko sieht zweierlei Gründe für diese Deportation: "Einerseits hat man natürlich die humanitäre Situation vorgeschoben - die Dörfer lagen mitten im Frontgebiet und man wollte die Zivilbevölkerung vor den Kriegsgefahren schützen - andererseits hatte man sehr große Angst vor der politischen Unzuverlässigkeit und vermutete überall Spione und Verräter." Die Deportierten wurden in Lagern in den verschiedensten Teilen der Doppelmonarchie konzentriert.

Wieviele Trentiner tatsächlich umgesiedelt worden sind, ist unklar; die Angaben schwanken zwischen 70.000 und 114.000. Das Gebiet unmittelbar hinter der Front wurde regelrecht entvölkert. Die meisten Bewohner von Lavarone kamen in das Flüchtlingslager in Braunau.

Lageraufenthalt & Rückkehr

Im k.k. Flüchtlingslager Braunau am Inn lebten durchschnittlich etwa 4.000, maximal 12.000 Menschen. Die Versorgung des Lagers war völlig autonom - es war unter anderem mit einer eigenen Kirche, einer Schule, einem Krankenhaus und einem Schlachthaus ausgestattet - und hatte mit der Gemeinde Braunau nichts zu tun. Eine Umzäunung aus Stacheldraht und eine Lagerwache schotteten das Lager von der Umwelt ab. "Nur die Familien, deren Mitglieder arbeiten konnten, kamen bei Bauern auf dem Land unter und hatten zur einheimischen Bevölkerung gute Beziehungen, von denen auch manche nach dem Krieg weiterbestanden haben" berichtet Marzari. Das Verhältnis der Braunauer zu den Flüchtlingen war, so Kotanko, als ambivalent zu bezeichnen: "Wenn auch die Verbindungen sehr bescheiden gewesen sind, so gibt es dennoch einerseits Berichte von gewalttätigen Übergriffen auf die Flüchtlinge und andererseits von vier Hochzeiten zwischen Braunauern und Lagerinsaßen."

Nicht minder schwierig als die Deportation und die Jahre im Lager war die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat im Winter 1918. "Die Gebäude und Felder waren zerstört und überall befanden sich die Relikte des Krieges wie Granaten und Munition. Die Rückkehr war zunächst einmal ein Wiederaufbau", beschreibt Kontanko das Schicksal der Heimkehrenden. Das Gebiet befand sich nach Kriegsende unter italienischer Militärverwaltung und mit Hilfe von italienischen Soldaten sind die Kriegsschäden beseitigt und die Felder wieder bewirtschaftet worden. Obwohl die Region vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont wurde, kam die Wiederbelebung der Wirtschaft nur langsam in Gange, so dass viele Lavaroner sich gezwungen sahen auszuwandern. Hatte der Ort im Jahre 1900 etwa 2.000 Einwohner, so sind es heute nur noch 1.100. Der allmähliche Umstieg von Landwirtschaft auf Tourismusindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stoppte schließlich die Abwanderung.

Braunau-Lavarone heute

Die Verbindung Braunau-Trentino wurde zunächst von Seiten der ehemaligen Lagerinsaßen aufrechterhalten. Kontanko: "Es hat gewisse emotionale Beziehungen gegeben: über die eigene Kindheit und über die hier begrabenen Verwandten." 728 Insassen des Flüchtlingslagers aus dem Trentino liegen auf dem Lagerfriedhof begraben, an den heute nur noch eine große Trauerweide und eine Gedenktafel erinnern. "Anfang der siebziger Jahre äußerten viele der älteren Leute, die die Jahre des Ersten Weltkriegs im Lager verbracht hatten, den Wunsch, noch einmal nach Braunau zu fahren", erzählt Marzari, "und so wurden wieder Kontakte geknüpft." Neben gegenseitigen Besuchen und der Übergabe des Marienbildes der ehemaligen Lagerkirche an die Pfarre Lavarone 1982 zeugen auch Straßennamen wie "Trentiner Platz" oder "Via Braunau" davon, dass die gemeinsame Vergangenheit noch nicht vergessen ist.

Lavarone (Lafraun)/Trient

1.063 Einwohner

Der Name Lavarone bezieht sich nicht auf einen bestimmten Ort, sondern auf die drei Hauptzentren Gionghi, Chiesa und Cappella.

1177: Lavarone wird zum ersten Mal urkundlich erwähnt.

11. bis 13. Jhdt.: deutschzimbrische Kolonialisierung der Region. Auch heute wird in der Gegend noch "zimbrisch" - eine dem Mittelhochdeutschen ähnliche Sprache - gesprochen.

1800: Krise der Landwirtschaft. Beginn der Auswanderung der Bevölkerung - zunächst innerhalb Österreich-Ungarns, später auch nach Amerika.

1866: Südtirol und das Trentino fallen an Österreich.

Beginn 20. Jhdt.: Die Habsburger entdecken die Region als Urlaubsziel. Auch Sigmund Freud war wiederholt in Lavarone.

1915-18: Die Bevölkerung von Lavarone wird evakuiert und kommt in das k.k. Flüchtlingslager Braunau am Inn.

1920-30: Die wirtschaftliche Situation der Region erholt sich nur langsam.

1939-45: Lavarone bleibt vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont.

nach 1945: Umstieg von Landwirtschaft auf Tourismus. Lavarone hat 8.000 Gästebetten. VT

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