Schweigespirale und Verlautbarungsdynamik

19451960198020002020

Die Theorie der vor 100 Jahren geborenen deutschen Demoskopie-"Päpstin" Elisabeth Noelle-Neumann steht angesichts von Trump &Co auf dem Prüfstand.

19451960198020002020

Die Theorie der vor 100 Jahren geborenen deutschen Demoskopie-"Päpstin" Elisabeth Noelle-Neumann steht angesichts von Trump &Co auf dem Prüfstand.

Werbung
Werbung
Werbung

Das Konstrukt der "Schweigespirale" gilt als eines der wenigen genuin kommunikationswissenschaftlichen Theorie- Beiträge, dessen Rezeption weit über den deutschsprachigen Raum hinausreicht. Die Grundannahme besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand seine Meinung öffentlich äußert, wächst, wenn die betreffende Person glaubt, die Mehrheitsmeinung hinter sich zu haben.

Theorie-Erfinderin, Elisabeth Noelle-Neumann - sie wäre im Dezember 100 Jahre alt geworden -, begründet diesen Mechanismus mit der Isolationsfurcht der Menschen. Der Grund des Schweigens soll darin bestehen, dass die Menschen Angst haben, als Außenseiter wahrgenommen zu werden und erwarten, aufgrund der Äußerung abweichender Meinungen Nachteile durch das Kollektiv zu erfahren.

Die zweite Grundannahme lautet, dass sich die Menschen von der in Medien veröffentlichten Meinung leiten lassen, um die aktuelle Mehrheitsmeinung zu ermitteln. Auf diese Weise tragen Medien wesentlich zum "Mainstreaming", d.h. zur Anordnung der Meinungen um den Mittelwert bei (man könnte auch von einer tendenziellen Gleichschaltung der Meinungen sprechen).

Mehrheitsmeinung anschließen

Die Voraussagen der Theorie sind mittlerweile vielfach überprüft und teilweise bestätigt worden. Umstritten sind allerdings die Begründung und der Geltungsbereich der Theorie. So erscheint fragwürdig, ob Noelle-Neumann nicht den Konformismus der Menschen überschätzt und dadurch eine allzu simple Dynamik der Entwicklung öffentlicher Meinung zeichnet. Kritiker werfen Noelle-Neumann vor, dass die Erfahrungen im Nationalsozialismus für den Konformismus-Bias verantwortlich seien.

Klarerweise fürchten Menschen in einer Diktatur Sanktionen, die bei abweichenden Meinungen eintreten könnten. Am stärksten gilt wohl heute die Schweigespirale in Nordkorea. Wenn jedoch die Drohung durch Haft und Konzentrationslager schwinden, wie das in der Demokratie der Fall ist, lässt die Isolationsfurcht drastisch nach. Wir wissen heute aus der Wahlforschung, dass Schweigespirale-Effekte insbesondere dann auftreten, wenn z.B. durch kriegerische Konflikte ein patriotisch aufgeladenes Klima entsteht, das einen gewissen Gleichschaltungsdruck ausübt (vor allem in den USA nachgewiesen): Wer will schon abseits der nationalen Gruppe stehen, wenn die eigenen Soldaten ihr Leben riskieren?

Keineswegs ist jedoch das "Mainstreaming", also die sich selbst verstärkende Tendenz, die Mehrheitsmeinung immer umfassender durchzusetzen, generalisierbar, da Menschen neben der Gruppenzughörigkeit in erheblichem Maße auch am Gegenteil interessiert sind, nämlich der individuellen Besonderheit und Abgrenzung von Allem, was mit Gruppe und Mainstream zu tun hat.

Grenzen der Schweigespirale

Die meisten Mode-Änderungen lassen sich als Abgrenzungspartikularismus deuten, der zwar selbst zum Mainstream werden kann, in diesem Falle aber beizeiten aufgrund des erneuerten Abgrenzungsbedarfs gesellschaftlicher Gruppen durchbrochen wird. Mit zunehmendem Gewicht nonkonformistischer - und d.h. zumeist anti-majoritärer und/oder anti-elitärer Abgrenzungsfaktoren -resultiert statt Angleichung zur Mitte eine Polarisierung von Meinungen in der Gesellschaft. Gerade die in jüngerer Zeit enorme Zunahme der Volatilität von Wählerströmen und Phänomene wie die "Wut-Bürger" sind mit den Annahmen der Schweigespirale nicht vereinbar.

Im Gegenteil, man könnte von einer Verlautbarungsspirale sprechen, die umso stärker wirksam wird, je stärker der Druck der (veröffentlichten Meinung das Gegenteil artikuliert. Donald Trump hätte nicht US-amerikanischer Präsident werden können, wenn die Schweigespirale die allseits beherrschende Dynamik der öffentlichen Meinung wäre. Wahlprognosen, die sich auf dieses Theorem verlassen, gehen deshalb immer häufiger in die Irre. Menschen neigen dazu, auf pädagogisierende Formen der Medienberichterstattung mit Ablehnung, psychologisch gesprochen mit "Reaktanz" zu reagieren.

Wenn sich Adressaten von Medienbotschaften in ihrer Souveränität der Meinungsbildung beeinträchtigt sehen, leisten sie Widerstand, sei es, dass sie sich dem Mainstreaming verweigern, sei es, dass sie selbst eine gegenteilige Verlautbarungsdynamik in Gang setzen. Nun sind solche Widerstandhandlungen ebenfalls an bestimmte Randbedingungen (z.B. den Glaubwürdigkeitsverfall der Massenmedien) geknüpft. Daher wird die Theorie der Schweigespirale auch das 21. Jahrhundert überstehen, allerdings nicht als Basis-Theorie, sondern als konformistische Theorie-Facette, die nur unter bestimmten Bedingungen auf die Dynamik der öffentlichen Meinung zutrifft und dabei von anderen Faktoren überlagert wird. Eine zukünftige nicht unterkomplexe Theorie der öffentlichen Meinung müsste das Schweigespirale-Konzept mit dem Nonkonformismus und der Reaktanzbereitschaft des Publikums verknüpfen.

Der Autor ist Prof. f. Kommunikationswissenschaft a. d. Uni Wien

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung