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Drei Millionen Klassenfeinde?

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Mindestens ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Tschechoslowakei kann nach der Ansicht der regimetreuen ÖSSR-Soziologen zu den „Klassenfeinden“ gerechnet werden. Zu dieser Auffassung kam die Studie eines Saziologenkallektivs des Instituts für Philosophie und Soziologie der Akademie der Wissenschaften in Prag, das von Dr. Frantisek Charvat geleitet wurde. Die Studie wurde auf Wunsch der gegenwärtigen Parteiführung unter Gustav Husäk angefertigt und soll der Parteiführung genaue Angaben über die zahlenmäßige Bedeutung der „Großbourgeoisie“ und der „Kleinbourgeoisie“ vermitteln.

Nach der „Zählung“ der Prager Soziologen leben in der heutigen Tschechoslowakei mehr als 300.000 Einwohner, die eindeutig zur „Großbourgeoisie“ gehören und damit als „Feinde des Sozialismus“ angesehen werden müßten. Nicht unbedingt und in allen Fällen dem Sozialismus „feindlich gesinnt“ ist hingegen die „Kleinbourgeoisie“. Nach den Angaben der Studie, deren Existenz jetzt von der Zeitschrift „Tribuna“, die als Sprachrohr des dogmatischen Flügels der KPTsch betrachtet wird, bestätigt wurde, gehören zur „Kleinbourgeoisde“ in der Tschechoslowakei rund 2,5 Millionen'Einwohner. Diese müssen als „nicht ganz zuverlässig“ angesehen und von führenden Positionen im Staat ferngehalten werden.

Es scheint nicht ausgeschlossen zu sein, daß gerade auf Grund dieser Feststellung die Prager Parteiführung zu einer ideologischen Großoffensive gegen „Klassenfeinde“ und gegen die „Rechtsrevisionisten“ übergegangen ist. Der für Ideologie verantwortliche ZK-Sekretär, Jan Fojtik, erklärte, daß noch auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens ehemalige Anhänger der Reformpolitik des Prager Frühlings von 1968 ihren Einfluß ausüben. Vor allem in den Massenmedien — in Rundfunk, Fernsehen, Presse — sollen die Befürworter des Prager Frühlings und die Anhänger Dubceks auf Umwegen Einfluß gewonnen haben. So erklärte der ideologische Sekretär der Kreisleitung der KPTSch in Brünn, Oldfich Kliönik, daß im Fernsehen Beiträge von ehemaligen Schriftstellern und Publizisten gesendet wurden, die bereits aus ihren Stellungen entfernt worden sind. Diese Beiträge wurden entweder unter Decknamen oder unter den Namen heute noch tätiger Fernsehmitarbeiter geschrieben. In ihnen sollen wieder „revisionistische Ansichten“ verbreitet worden sein. Auch in der Slowakei ist es — wie der Direktor des Slowakischen Fernsehens, Pecho, zugab — zu ähnlichen Erscheinungen gekommen. Stark soll der „Rechtsopportunismus“ unter den Wissenschaftlern im Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wisssenschaften wieder Fuß gefaßt haben. Nach der Meinung des Prager Rundfunkkommentators Dohna soll die Partei trotz der erst vor kurzem beendeten Großsäuberungen erst jetzt darangehen, die Wurzeln des Übels ganz zu vernichten.

Die Ergebnisse der großangelegten ideologischen Kampagne ließen nicht lange auf sich warten. Weitere hundert Redakteure und Angestellte des Rundfunks und des Fernsehens sind entlassen worden; in den Instituten der Akademie der Wissenschaften wurden aus treuen Parteimitgliedern wieder Kommissionen gebildet, die schon zum drittenmal in den letzten zwei Jahren alle Wissenschaftler nach ihrer „wirklichen“ Meinung überprüfen werden. Wer aber nicht „überprüft“ wird, muß mit seiner Entlassung rechnen!

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