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Ein Denker ging

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Jean Amery ist tot. Er hat „Hand an sich gelegt“. Vor wenigen Monaten habe ich ihn noch gesehen. Gesprächig, fast fahrig nervös. Er hatte gerade sein neues Buch fertiggeschrieben.

Sein Gesicht war noch zerfurchter gewesen. Falten, die sich tief in die Haut fraßen. „Das Gesicht einer Spinne“ hat er einmal gesagt. Die Augen sind fast verschwunden in den riesigen Höhlen, diese unsteten, unruhigen Augen.

Mit dem Tod hat er sich ein Leben lang beschäftigt. Auch theoretisch. In dem Buch „Hand an sich legen. Ein Diskurs über den Freitod“ hat er über Selbstmord geschrieben. Es war das finsterste seiner vielen Bücher. Er hat darin von der Freiheit gesprochen, „aus dem Leben zu gehen“.

Und - er ist immer Humanist gewesen. Radikaler Humanist. Ehrlich, aufrichtig und unnachgiebig in den Punkten, die er für wichtig hielt: Die Freiheit, die Kompromißlosigkeit.

Er hat eigentlich Johann Meyer geheißen. Er, Johann Meyer, hat Auschwitz erlebt, die Emigration. Das hat Spuren hinterlassen. Nicht nur in seinem Gesicht, in seinen Augen. Die ganz tiefen Spuren hat kaum jemand gesehen. Die hat Jean Amery versteckt. Jetzt hat er sie gelöscht. Freiwillig.

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