„Roth ist einer der stärksten Menschen, dieheute schreiben. Und dies Buch ist eines der stärksten Bücher, die er geschrieben hat." Der Rezensent, der sich bereits 1930 für Joseph Roths „Hiob" einsetzte, war Ludwig Marcuse(1894bisl971),den man heute bestenfalls mit seinem Namensvettern, dem allmählich in Vergessenheit geratenen Philosophen Herbert M., verwechselt. Daß er über einen Zeitraum von fünfzig Jahren zu den bedeutendsten Literaturkritikern deutscher Sprache gehörte, weiß man nicht mehr.
Marcuses Kritiken und Essays besitzen selbst literarische Qualitäten. Im Urteil erweist er sich als sachlicher, prägnant formulierender und argumentierender Kritiker, der als einer der ersten Robert Mu-sils„Mann ohne Eigenschaften" als Meisterwerk erkannte. Die fast hundert witzigen Parodien, Porträts, Analysen, Polemiken, Würdigungen und biografischen Erzählungen des vorliegenden Bandes wurden ausgewählt. Das Schwergewicht liegt dabei auf der Exilliteratur, die Mar-cuse auch nach 1945 zu vermitteln versuchte. Zu seinen Favoriten gehörten neben Joseph Roth und Mu-sil auch Döblin, Thomas und besonders Heinrich Mann. An der Gegenwartsliteratur der fünfziger und sechziger Jahre schätzte er Boll und Koeppen; neue avantgardistische Literatur lehnte er wegen deren Un-verständlichkeit ab. Die Titelfrage stellte Marcuse anläßlich eines Neudrucks von Heinrich Manns Roman „Der Untertan".
WIE ALT KANN AKTUELLES SEIN? Literarische Porträts und Kritiken. Von Ludwig Marcuse. Herausgegeben von Dieter Lamping. Diogenes Verlag, Zürich 1989.596 Seiten, öS 436,80.