Eine der kessen Schönen scheint eben einer Disco entsprungen, eine andere blickt stolz über den Beschauer hinweg, als hätte er, 1981 in dem Buch über die Keramik der Wiener Werkstätte blätternd, mi^ der Dame aus dem Jahre 1927 anzubandeln versucht. Eine dritte blickt sinnend und ganz und gar unmodern in die Gegend.
Erstaunlich, in welchem Ausmaß diese Figuren die Atmosphäre einer Zeit ausstrahlen, ein Lebensgefühl spiegeln. Wie diese Zeit endete, daran darf man nicht denken.
Sollte je die Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Lebensgefühl, Kunsthandwerk und Industrial Design im Zwanzigsten Jahrhundert geschrieben werden, ist der Wiener Werkstätte darin ein wichtiger Platz sicher. Vorher muß freilich die Geschichte der Wiener Werkstätte geschrieben werden. Sie ist voll von ungeklärten Fragen.
Die Keramik zum Beispiel ist eine ästhetische Fuhdgrube, liegt aber wissenschaftlich im Nebel. Kenner munkelten von den im Museum für. Angewandte Kunst schlummernden Bänden mit den Originalzeichnungen der Entwerfer.
Nun taucht dieser Schatz aus dem Nebel. Waltraud Neuwirth, die die Glas- und Keramiksammlung des Museums betreut, setzt ihre für Sammler wie für Kenner und Kunsthändler segensreiche Publikationstätigkeit mit einer auf Vollständigkeit angelegten, mehrbändigen Veröffentlichung des von der „Werkstätte“ hinterlassenen Archivmaterials fort: knapp kommentiert, mit zusätzlichen In
formationen, zugleich „Rohmaterial“ für weitere Forschung.
Schon Band 1 des so gar nicht auf kulinarisches Genießen angelegten Werks entfaltet auch hohen ästhetischen Reiz.
WIENER WERKSTÄTTE - KERAMIK. Band 1: Originalkeramiken 1920-1931. Wien, Selbstverlag Dr. Waltraud Neuwirth, 1981. 352 Seiten, 266 Abbildungen (davon 8 in Farbe), Ln., öS 900,-