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De profundis

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Ein Gedicht wie ein Gebet nach Psalm 130.

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Ein Gedicht wie ein Gebet nach Psalm 130.

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Aus der Erfahrung, daß du im Alltag
unendlich weit weg bist,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus der Erkenntnis, daß Menschsein in Spannung leben heißt,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus der Erfahrung, daß deine Gedanken oft schmerzlich anders sind
als unsere Wünsche und Pläne,
ruf ich zu dir, o Herr.
Nach dem hundertsten Gespräch mit einem Menschen,
der mich nicht verstehen kann oder will,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus Angst, mich selbst nicht bewältigen zu können,
ruf ich zu dir, o Herr.
Nach einer Auseinandersetzung, in der ich gedemütigt werde,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus der Gewißheit, daß Verurteilen
leichter ist als Zuhören und Verstehen,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus der Erinnerung an Menschen, die sich das Leben nahmen,
schrei ich zu dir, o Herr.
Aus der Erkenntnis, daß der Gute auch klug sein muß,
will er in dieser Welt bestehen,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus Mitleid mit behinderten Menschen,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus Kummer über nicht vollzogene Reformen in Kirche und Staat,
schrei ich zu dir, o Herr.
Aus der Tiefe, aus dem Nichts, aus dem Dunkel,
aus schlaflosen Nächten und angstvollen Tagen,
ruf ich zu dir, o Herr.
Aus dem Zweifel, aus der Müdigkeit, aus Unruhe und Ungeduld.
ruf ich zu dir, o Herr.
De profundis
Aus der Stille ruf ich zu dir und hör deine Worte:
Fürchte dich nicht! Ich bin bei dir.
Wachsen auch deine Sorgen, sie werden dich nicht erdrücken.
Ich bin der Herr, dein Gott, der in dir, mit dir und bei dir bleibt.
Vertraue auf mich. Meine Kraft ist dir sicher.

Der Autor ist Pfarrer und Schriftsteller

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