", Viele Burnout-Patienten projizieren ihren Leistungsanspruch auf andere', sagt Pfleger Per-Olof De Marco. Er begann sich zu wehren -indem er gelassen blieb."
Krankenpfleger sind keine Kämpfer. Trotzdem fühlte sich Per-Olof De Marco (42) in der Vergangenheit oft als solcher. De Marco arbeitete lange in der somatischen Medizin, bis er vor drei Jahren ins Bonner Gezeitenhaus wechselte, eine Privatklinik für Psychosomatische Medizin mit einem Schwerpunkt auf Behandlungen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Dort ist er mittlerweile Pflegeteamleiter der Tagesklinik. Sätze wie "Haben Sie mir meine Tabletten noch nicht heraus gesucht?" oder "Wo ist denn schon wieder das Joghurt?" konnten ihn früher in Bedrängnis bringen. "Viele Burnout-Patienten projizieren ihren eigenen Leistungsanspruch auf andere; das macht Druck und kommt rasch als Kritik an", sagt De Marco. Vor zwei Jahren begann sich der
Pfleger zu wehren -indem er gelassen blieb. Gelernt hat er diese Haltung im Aikido.
Der "Aikidoka"(analog dem Begriff "Judoka") De Marco praktiziert bereits seit mehr als zehn Jahren in einer Bonner Aikido-Vereinigung (Aikikai), vor zwei Jahren begann er die Techniken für seine Arbeit zu nutzen. "Als Pfleger oder Pflegerin muss man viele negative Emotionen der Klienten halten können. Die meisten sind damit überfordert und wünschen sich Strategien, um sich zu behaupten", sagt De Marco. Aikido kann da eine Abhilfe verschaffen, da der achtsame und friedliche Umgang mit Grenzen geübt wird. Dem Bedürfnis der Belegschaft folgend führte De Marco 2015 eine regelmäßige Aikido-Gruppe für das Pflegeteam ein, seit 2016 dürfen auch die Patienten trainieren.
Kampfsport für die Sensiblen
Aikido ist die friedlichste und defensivste aller asiatischen Kampfkünste -und wird oft auch als Kampfsport für die Sensiblen bezeichnet. "Erfunden" wurde Aikido von dem Japaner Morihei Ueshiba (1883-1969). Dieser wurde als Sohn eines wohlhabenden Bauern geboren und begann seine Berufslaufbahn als Handelskaufmann. Schon als Jugendlicher hatte er jedoch die traditionellen Kampfkünste Daitô Ryû, Ju¯jutsu, Kenjutsu und Sôjutsu erlernt und zog 1904 in den russisch-japanischen Krieg. Nach seiner Rückkehr schloss er sich für kurze Zeit einer Sekte an, die sein Denken über die Kampfkünste wesentlich beeinflusste. Ueshiba kehrte der Sekte den Rücken, entwickelte jedoch auf Basis der dort gemachten spirituellen Erfahrungen seine eigene Form der friedfertigen Kampfkunst -Aikido. Die drei Silben dieses Begriffs erklären, worum es im Wesentlichen geht: "Ai" steht im Japanischen für Freundschaft, Gleichgewicht und Harmonie, "Ki" bedeutet Energie, Geist und Wille und "Do" bezeichnet die Philosophie bzw. den Weg.
Wenn De Marco heute einem verbalen Angriff ausgesetzt ist, weiß er, dass zuerst die Ebene des "Ai", der Harmonie wieder hergestellt werden muss, bevor der Konflikt überhaupt angeschaut werden kann. "Im Aikido geht es nicht darum, besser, schneller oder stärker zu sein. Kommt ein Angriff, so wird die Energie des Gegners aufgenommen und in einer für beide sicheren Bewegung zu Ende geführt", weiß auch der Grazer Psychotherapeut Rainer Dirnberger. Wettkämpfe gibt es deshalb im Aikido keine. Gewichtsklassen ebenso wenig. Dirnbergers eigene Aikido-Karriere begann 1985. "Ich wollte zu Beginn nur beweglicher werden", sagt der gelernte Transaktionsanalytiker. Schon bald entdeckte er jedoch Parallelen zu seiner therapeutischen Arbeit und begann diese zu beforschen. Ergebnis ist das Buch "SELE. Selbsterkenntnis durch Leiberfahrung. Eine Synthese aus Psychotherapie und der Kampfkunst Aikido" (Books on Demand, 2013). Sie ist die einzige derartige Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum und dient auch dem Bonner Gezeitenhaus als Grundlage für das Aikido-Training im therapeutischen Setting.
Panzer und "Powerplay"
"Wir alle kennen 'Kampfsituationen' in der Therapie", sagt Dirnberger. Begriffe wie Abwehrmechanismen, Charakterpanzer oder "Powerplay" sind längst auch im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen. "Wenn wir Kampf als eine Form des Umgangs mit Konflikten verstehen, können wir vieles aus dem Aikido lernen", erläutert der Therapeut und erzählt ein Beispiel aus seiner Praxis als "Aikidoka".
"Wird eine Person angegriffen und an der Hand festgehalten, so versucht sich der nicht Trainierte vermutlich verzweifelt zu befreien", so Dirnberger. Dies entspricht dem ganz normalen biologischen Reflex des Menschen auf Angriff. Flucht, Tot-Stellen oder Gegenangriff lautet die natürliche Programmierung unseres Gehirns. "Was würde passieren, wenn wir den Konflikt annehmen?", fragt der Psychotherapeut pointiert. Dabei steht an erster Stelle ein Perspektivenwechsel. Anstatt auf die festgehaltene Hand fixiert zu bleiben, kann sich der Angegriffene auf den restlichen Körper konzentrieren. Lässt sich vielleicht doch ein Bein bewegen oder ein Schritt machen? Und ist es vielleicht sogar möglich, für einen Moment die Perspektive des Angreifers zu übernehmen, sich also parallel zu ihm aufzustellen? Häufig löst sich dann dessen Griff von ganz allein.
"Zen in Bewegung"
Gerade für Menschen, die im Hamsterrad des Burnouts gefangen sind, könne dieser Perspektivenwechsel lebensrettend sein, weiß auch De Marco: "Menschen erfahren so auf körperlicher Ebene, dass sie auch in scheinbar ausweglosen Überforderungssituationen immer noch einen gewissen Handlungsspielraum haben." So würde die Selbstwirksamkeit gestärkt, neue Rollen ausprobiert und die Achtsamkeit gefördert.
Voraussetzung für das Einnehmen der neuen körperlichen und geistigen Haltung ist die bewusste Entspannung. Aikido wird nicht zufällig als "Zen in Bewegung" bezeichnet. Zu Beginn jeder Aikido-Einheit stehen Achtsamkeitsübungen, die sich auf die Atmung oder die Konzentration auf den "Mittelpunkt" in der Bauchgegend (Hara) beziehen, sowie die Lockerung verkrampfter Körperpartien. "Wer sich nicht entspannt, kann sich nicht öffnen", sagt De Marco und meint damit, dass der nötige Schritt in den Angriff des Gegners hinein bei zu viel Angst und Anspannung nicht möglich ist.
Aikido könne somit nicht nur für Burnout-Patienten eine Hilfe darstellen, sondern auch für Menschen mit Angststörungen, weiß der Therapeut Dirnberger. Er plädiert jedoch gleichzeitig für einen gewissen Realismus: "Ich kann mit Aikido keinen Panzer bewegen." Die Kampfkunst sei ein Mosaikstein in der Therapie.
Auch im Gezeitenhaus in Bonn wird der neue Ansatz mit viel Bedacht eingesetzt, denn es gibt ebenso Kontraindikationen für das Aikido. Dazu gehören etwa schwere Traumatisierungen. "Aikido fügt zum Element des Zen noch die Berührung des anderen hinzu", sagt Pflegeteamleiter De Marco. Hier müsse genau geschaut werden, wie viel Körperkontakt für eine Person passen würde. "Für diejenigen, die sich trauen, kann es aber möglicherweise eine Befreiung sein zu spüren, dass man in einem Angriff die Kontrolle behalten und bei sich selbst bleiben kann." Das Ganze natürlich in einer friedlichen Haltung: Der Angreifer muss hier nicht vernichtet werden.