Eine offene Rechnung begleichen

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Die Entschädigung für Zwangsarbeiter ist eine moralische Geste des Bedauerns und des Wissens um vergangenes Unrecht. Sie sollte schleunigst geschehen!

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Die Entschädigung für Zwangsarbeiter ist eine moralische Geste des Bedauerns und des Wissens um vergangenes Unrecht. Sie sollte schleunigst geschehen!

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Bundeskanzler Viktor Klima versteht es, durch seine Äußerungen hin und wieder Aufmerksamkeit hervorzurufen. So kommentierte er in einem kürzlich erschienenen Interview im "Spiegel" die deutsche Vereinbarung über die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter mit den richtungsweisenden und belebenden Worten: "Was Deutschland getan hat, ist sicherlich beispielhaft. Wir werden dem wohl folgen müssen."

Dem Beobachter, der in Österreich zu diesem Thema seit einiger Zeit stattfindenden Diskussion kommt angesichts dieser Feststellung des österreichischen Regierungschefs ins Staunen: Brauchte es wirklich das deutsche Beispiel, um eine österreichische Lösung zu diesem längst bekannten und sensiblen Problem zu finden? Die österreichische Verzögerungspolitik wird man kaum mit den deutschen Bemühungen begründen können, die ein klug agierender Otto Lambsdorff zu einem erfolgreichen Ende führte.

Im Gegenteil, die für Deutschland gefundene Lösung ruft die Peinlichkeit in Erinnerung, mit der das offizielle Österreich in dieser Frage vorgegangen ist. Das Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit ist unteilbar. Es wurde uns am Ende eines Jahrhunderts wieder in Erinnerung gerufen. Abermals zeigt sich, daß es auch heute noch ein schwieriges Unterfangen ist, jene moralischen Gesten zu setzten, die Verständnis und Empfindsamkeit für das Unrecht vergangener totalitärer Regime ausdrücken. Die nationalsozialistische Zwangsarbeit war die Sklavenarbeit des 20. Jahrhunderts. Diese Sklaverei hatte viele Gesichter, sie erfaßte verschiedene Menschengruppen mit unterschiedlicher sozialer und rechtlicher Stellung. Die weitaus größte Gruppe unter ihnen bildeten die ausländischen Zivilarbeiter, die zum Arbeitseinsatz in das Deutsche Reich gebracht und dort als "Fremdarbeiter" ihr Dasein fristeten. Andere Gruppen waren die ausländischen Kriegsgefangenen, die meist aus Polen, der Sowjetunion oder Frankreich stammten, sowie die Häftlinge in den Konzentrationslagern und europäische Juden, die sowohl in ihren Heimatländern als auch nach ihrer Deportation Zwangsarbeiten verrichten mußten.

Wähleropportunistisch Die Zwangsarbeiter wurden bald wesentliches Element der Wirtschaft des "Tausendjährigen Reiches". Seit der Kriegswende im Winter 1941/42 war die deutsche Wirtschaft auf die Beschäftigung ausländischer Zwangsarbeiter angewiesen. Sie wurden in der Rüstungsindustrie und teilweise in der Nahrungsmittelproduktion eingesetzt, sie leisteten Frondienste im Straßenbau, in der Industrie und in der Landwirtschaft. Die zeitgeschichtliche Forschung ermöglicht uns heute eine ziemlich genaue Einsicht in die Zahl und die Herkunft der Zwangsarbeiter, in ihre soziale Lage und ihre Verteilung auf die einzelnen Bereiche.

Auch das von der österreichischen Historikerkommission im März 1999 vorgelegte Arbeitsprogramm gibt eine relativ konkrete Auskunft über die Zwangsarbeiter in der ehemaligen Ostmark. Im Herbst 1944 leisteten weit über 600.000 Personen Zwangsarbeit auf österreichischem Gebiet; die überwiegende Zahl stammte aus dem Ausland oder aus den von NS-Deutschland besetzten Gebieten. Zwangsarbeit wurde in "Zigeunerlagern" (von Roma und Sinti), in Gettos und in Konzentrationslagern geleistet. Viele leisteten Zwangsarbeit im Zustand faktischer Rechtlosigkeit. Eine große Gruppe von Zwangsarbeitern hatte den Status ziviler ausländischer Arbeiter und arbeitete unter äußerst unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen.

Die Voraussetzungen, daß sich die österreichische Politik dieser Frage annimmt, sind seit langem gegeben. Ebenso bestand nie ein Zweifel, daß die Entschädigungsleistungen in einer konzentrierten Aktion zwischen Staat und Wirtschaft zu erbringen seien. Die Wirtschaft hat ihre historische Verantwortung offensichtlich erkannt und scheint im großen und ganzen willig für eine politische Geste. Die Politik hat allerdings bestenfalls abwartend reagiert. Die naheliegende Idee, zur Durchführung des Projektes der Zwangsarbeiterentschädigung den Nationalfonds heranzuziehen, der in den vergangenen Jahren durch die Zuerkennung von Geldbeträgen an Opfer des Nationalsozialismus eine gewisse Reputation und Erfahrung gewonnen hat, fand kein offenes Ohr bei den Regierungsparteien.

Die Gründe für dieses Verhalten liegen tiefer. Teile der Bevölkerung stehen einer solchen Aktion ablehnend gegenüber. Wahlen kann man mit diesem Thema sicher nicht gewinnen. Daher mußte dieses Anliegen im vergangenen Nationalratswahlkampf ausgeklammert werden. Beide Regierungsparteien, SPÖ und ÖVP, verhielten sich wähleropportunistisch.

Furcht vor Jörg Haider Das erzeugt auch jenen Beigeschmack, der jeder derartigen Diskussion anhaftet. Schon bei den Bemühungen zur Schaffung des oben genannten Nationalfonds gab es Gespräche, in denen Spitzenrepräsentanten der Regierung und des Parlaments eine mögliche Kritik Jörg Haiders und der Kronen Zeitung geradezu fürchteten. An dieser Einstellung hat sich bis heute nichts geändert. Sie ist auch die Ursache dafür, daß die österreichische Regierung in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung bisher eine laue, halbherzige Haltung eingenommen hat. Die Chance, durch einen offenen Dialog mit anderen betroffenen Staaten eine Vertrauensbasis zu schaffen, wurde vertan. Da es in den meisten Ländern seit längerem Einrichtungen gibt, die sich um diese Frage kümmern, wären die notwendigen Informationen ohne Schwierigkeiten zu erhalten gewesen.

Möglichst schnell!

Wie bei den Leistungen des Nationalfonds geht es bei den Zwangsarbeitern um keine "Entschädigung" im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern um eine moralische Geste des Bedauerns und des Wissens um vergangenes Unrecht. Die europäischen Staaten haben in der Menschenrechtskonvention, der sich Österreich schon 1958 angeschlossen hat, das Verbot der Zwangsarbeit als Grund- und Menschenrecht akzeptiert. Eine Entschädigung für die Zwangsarbeiter des Nazi-Regimes wäre daher Ausdruck einer europäischen Solidarität und eines gemeinsamen Wertebewußtseins.

Die Politik hat hier eine Aufgabe wahrzunehmen, die sich nicht nur am Wählerinteresse orientieren kann. Der englische Historiker Eric Hobsbawm bemerkt in seinem Werk "Das Zeitalter der Extreme", daß eines der charakteristischen und unheimlichen Phänomene des 20. Jahrhunderts die Zerstörung des sozialen Mechanismus sei, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft. Die meisten jungen Menschen wachsen am Ende des 20. Jahrhunderts in einer Art permanenten Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt. Die Herstellung der Verbindung zur Vergangenheit ist eine genuine Aufgabe der Politik.

Zurückkehrend zum anfangs zitierten Wort Viktor Klimas über die deutsche Einigung der Zwangsarbeiterentschädigungen: "Wir werden uns wohl fügen müssen." Jawohl, Herr Bundeskanzler, aber möglichst schnell!

Der Autor ist Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Wien und Präsident der Politischen Akdemie. Von 1994 bis 1999 war Neisser Zweiter Nationalratspräsident.

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