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Jerusalem zwischen Frieden und Krieg

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„Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorren meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“ (Psalter 137.)

Es war aim 29. Juli 1967, als die israelische Regierung einen Beschluß zur administrativen Vereinigung des jüdischen und des arabischen Jerusalem annahm. Es war kein feierlicher Beschluß, noch wurde er hier an die große Glocke gehängt, man wollte so wenig wie möglich die Aufmerksamkeit der Welt erwek-ken. Doch mit diesem administrativen Akt wurde die Alt- und Neustaidt in ein einziges Jerusalem vereinigt. Die über neunzehnjährige Teilung 'der Stadt wurde mit diesem Dekret aufgehoben. Der Akt der Vereinigung der beiden Stadtteile erweckte sofort die Opposition der führenden Araber. Anwar Nusseiba, früher Sicherheits-minisiter im jordanischen Kabinett und heute Einwohner von Jerusalem, der sich auf seine Privatgeschäfte zurückgezogen hat, erklärte erst dieser Tage auf Fragen von Journalisten: „Der Status von Ost Jerusalem muß der gleiche sein wie der aller besetzten Gebiete, bis zur Erreichung eines Friedensabkommens. Die einseitige Vereinigung der Stadt hindert jegliches Priedensabkommen zwischen Israel und den arabischen Staaten.“

Das arabische Mitglied der Knesset (Parlament) Abdul Aziz Suavi, der der israelischen linkssozialistischen Mapam angehört, erklärte im Gegensatz zu seiner Partei, die die Vereinigung befürwortet: „Diesereinseitige Schritt kann den Frieden auf Jahre hinauszögern.“

Wer zählt die Völker... Einige Wochen nach der offiziellen

Vereinigung wurde eine Volkszählung der Jerusalemer Einwohner vorgenommen; denn sie sollen nicht nur Einwohner einer vereinigten Stadt sein, sondern auch alle Rechte eines israelischen Bürgers zu genie-Bevor der Zensus stattfand, kamen einige Tausend Verwandte aus den umliegenden Dörfern, um sich mitzählen zu lassen und die Vorteile eines israelischen Bürgers zu genießen. Zirka 55.000 Mohammedaner, 12.500 Christen verschiedener Konfessionen und zirka 200.000 Juden zählt das heutige vereinte Jerusalem. Die Tore zwischen den beiden Stadtteilen wurden abgeschafft. Jeder Bürger von Ostjerusalem kann ungestört zu Fuß oder per Auto nach Westjerusalem gelangen — umgekehrt natürlich auch. Sofort nach der WiedervOTeinigung pilgerten die Araber Ostjerusalems scharenweise nach dem westlichen modernen Teil der Stadt, betrachteten neugierig die schönen Anlagen, viele besuchten alte Bekannte, die sie dort noch vor dem Befreiungskrieg im Jahre 1948 hatten, andere hingegen begaben sich zu ihren seit 1948 konfiszierten Häusern im Westteil der Stadt, in denen heute Israelis wohnen und die sie nun nach einer längeren gerichtlichen Prozedur zurückerstattet bekommen.

Von Zeit zu Zeit gibt es Terroranschläge

Die ersten, die sich der neuen Situation anpaßten, waren die Händler der Altstadt Altjerusalem hatte den kauflustigen Israelis viel zu bieten. Israel mit seinen hohen Importzöllen hatte viel weniger ausländische Waren als die Ostjerusallemer Händler. Tagtäglich kamen sie zu Häuf nach Ost Jerusalem, kauften chinesische Taschenlampen, amerikanische Rasierseife, englische Stoffe und Transistoren aus Japan, so als ob sie in ihrem Leben noch nie etwas Ähnliches gesehen hätten. Viele Juden begannen sofort Arabisch zu lernen — und viele Araber — die hebräische Sprache. Aber trotz allem — es blieb nur Fassade. Denn die wahren Gefühle wechselt man nicht wie ein Hemd. Erst küraMch explodierten drei

Sprengstoffladungen in einer Gasse, die zur Klagemauer führt. Daraufhin wurden 17 Wohnungen und Läden in dieser Gasse konfisziert, um Sicherheitskräfte dort zu beherbergen, damit sie den Zugang zur Klagemauer schützen. Die Besitzer wurden entschädigt und erhielten Wohnungen in anderen Stadtteilen. Trotzdem waren sie nicht glücklich. Schließlich hatten sie persönlich nichts mit dem Attentat zu tun. Doch im Krieg gegen den Terror kann

man nicht immer den Freund vom Feind unterscheiden. Nach jeder Terroraktion werden Dutzende Verdächtige festgenommen, um die Täter zu finden. Meistens werden sie entdeckt, denn nur in den wenigsten Fällen halten sie dicht. Obwohl das Verhältnis zu den Untersuchungsgefangenen korrekt ist, tragen solche Verhöre auch nicht zur Popularität der israelischen Regierung bei. Die Vereinigung Jerusalems nimmt trotz allem ihren Lauf. 6000 arabische Arbeiter sind in Westjerusalem bei Neubauten und in der Industrie beschäftigt. Tagtäglich um vier Uhr nach Ende der Arbeit sieht man sie scharenweise nach der Altstadt zurückkehren. Sie verdienen heute viel mehr, als sie jemals zu jordanischen Zeiten verdient hatten. Die Wiedervereinigung änderte erheblich die soziale , Struktur. Ärzte und Rechtsanwälte, die seinerzeit ungefähr 10.000 bis 20.000 israelische Pfund pro Monat verdient hatten, verdienen heute nur einen Bruchteil dieser Summe.

Hier ist zu betonen, daß die jordanischen Rechtsanwälte bis heute noch nicht bereit waren, an israelischen Gerichten zu fungieren, obwohl sie automatisch in die israelische Liste der Rechtsanwälte aufgenommen wurden. Sie erhalten, ähnlich wie ehemalige Regierungsfoeamte, Unterstützungen aus der Regierungskasse Jordaniens.

Facharbeiter und mittlere Angestellte haben ihr Einkommen oft um das Drei- bis Vierfache erhöht. Die kleinen Angestellten und Arbeiter hatten zur Zeit des jordanischen Regimes keine sozialen Rechte, keinen Jahresurlaub, keine Krankenversicherung usw. Heute, bei einem jüdischen Arbeitgeber, erhalten sie das alles. Und trotzdem kann man auch von ihnen hören: „Helfe uns Allah, den jüdischen Okkupanten zu

vertreiben.“ Denn viele haben das Gefühl, sie hätten „ihr Gesicht verloren“, und Jahre werden vergehen, bis sie einsehen, daß das nicht alles im Leben ist.

Vielfalt der Konfessionen

Jerusalem ist. der mohammedanischen, der christlichen sowie der jüdischen Konfession heilig. Außer Juden und Mohammedanern gibt es 5000 Griechisch-Orthodoxe, Rumänisch-Orthodoxe und Russisch-Orthodoxe, 4000 Römisch-Katholische und Chaldäer sowie 3000 Armenisch-Orthodoxe, Koptisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe und Äthiopisch-Or-

thodoxe. Die tausenden Anhänger der protestantischen Kirchen sind heute durch die anglikanische Kirche, die lutheranische, baptistische Kirche, Church of Scotland, Church of Naza-ret, Pentecostalisten (Pfingstler), Ad-ventiisten, Gatteskirche, Christuskirche, mennonltische Kirche, Quäker und Christliche Brüder vertreten. Die Vielfalt der Konfessionen allein zeigt schon, wie groß das Interesse für die Heilige Stadt auf der ganzen Welt ist.

Keine Arbeitslosen

„Die großen Hoffnungen, .die wir seinerzeit auf die Vereinigung Jerusalems gesetzt haben, sind nicht in Erfüllung gegangen“, sagt Dan Tichon, Sekretär des Kaufleuteverbandes von Westjerusalem. „Kurz nach der Vereinigung wanderten ganze Familien von Ostjerusalem zu

uns in den Westen und kauften in unseren modernen Läden ein. Ungefähr zehn Prozent unseres Umsatzes wurde durch Ostjerusalemer bestritten. Auch umgekehrt: Die Israelis gingen in die Altstadt und kauften dort billige Stoffe, Schuhe usw. ein. Heute besuchen noch 80.000 bis 100.000 Israelis am Schabbat (Israels Ruhetag) die Altstadt. Doch an den Werktagen ist der Umsatz in der Altstadt ziemlich Mein. Die Araber hingegen kommen heute viel seltener nach West Jerusalem; denn sowie irgendein Attentatsversuch unternommen wird, kann es geschehen, daß sie als verdächtig festgenommen werden und einige Stunden oder Tage in Untersuchungshaft verbringen müssen, bis ihre Unschuld bewiesen ist.“

„Die Ostjerusalemer machten, insbesondere kurz nach der Vereinigung, gute Geschäfte, doch später“, erklärte der Kaufmann Jaafcub Muammer, „war die Situation viel komplizierter. Wir mußten unsere Vorräte durch Käufe in Israel auffrischen, dadurch steigerten sich die Preise, und heute haben wir den israelischen Käufern oft nur dieselbe israelische Ware anzubieten, die sie auch in Westjerusalem erhalten können, und in diesem Falle ziehen sie jüdische Geschäfte vor.“ Trotzdem ist die Situation nicht ganz so schlecht, wie es scheint. Im Gegenteil: eine Anzahl Ostjerusalemer Firmen hat begonnen, für israelische Firmen zu arbeiten. Eine Schneider-Kooperative wurde im Osten der Stadt gegründet, um große israelische Aufträge auszuführen. Die meisten Araber Ostjerusalems sagen es ganz offen: sie wollen keine geteilte Stadt, würden jedoch eine Internationalisierunig einer jüdischarabischen Munizipalität im Staate Israel vorziehen.

Vor den Wahlen“im November

Im November dieses Jahres werden in Israel Parlaments- und Munizipalwahlen abgehalten werden. Die Ostjerusalemer haben das Recht, ihre Vertreter in die Stadtverwaltung zu wählen. Darüber Meron Benvenischti, der Verantwortliche für den arabischen Teil Jerusalems: „Eine der Schwierigkeiten besteht darin, daß in Ostjerusalem keine selbständige arabische Führung existiert. Die Vertreter der Stadtverwaltung wurden von König Hussein ernannt, und einige von ihnen haben in der Zwischenzeit die Stadt verlassen. Wenn eine arabische Liste aufgestellt werden sollte, so besteht die Möglichkeit, daß sie sechs von den einunddreißig Sitzen des Stadtrates erhält, denn alle werden ganz ohne Zweifel eine solche Liste wählen.“

„In dem komplizierten Koalitionsspiel der Jerusalemer Stadtverwaltung könnten diese sechs Stimmen ausschlaggebend sein und sehr oft eine wichtige Rolle spielen. Sie können mit entscheiden, ob eine Straße

aus jüdisch-religiösen Gründen am Schabbat für den Verkehr geschlossen werden soll oder ob eine neue Synagoge erbaut werden solle. Was die religiöse Minorität oft nicht mit eigenen Stimmen erreichen kann, könnte sie vielleicht mit Hilfe arabischer Stimmen bekommen“, sagte

mir ein führender jüdischer Munizipalpolitiker Jerusalems. Bisher erklärten die Araber auf Anraten von Radio Amman, daß sie die Munizipalwahlen boykottieren werden. Aus dem oben genannten Grunde sind auch viele jüdische Politiker Westjerusalems nicht an einer arabischen Wählerliste interessiert. Völlig anderer Ansicht ist der Bürgermeister des vereinten Jerusalem, Teddy Kolek. „Ich bin für eine arabische Liste, auch wenn sie militant, antiisraelisch und unangenehm ist, jedoch die arabische Bevölkerung wirklich vertritt. Die Bürger Ostjerusalems haben das Recht auf ihre Vertretung, ganz egal, ob uns das sympathisch ist oder nicht.“ Die Zeit blieb nicht stehen. Ein Meisterplan für Jerusalem wurde schon vorbereitet. Im Jahre 1980 wird Jerusalem zirka 400.000 Einwohner beherbergen, davon 100.000 Araber. Doch im Jahre 2010 wird Jerusalem auch die Städte Bethlehem und Ramallah umfassen, zirka 890.000 Einwohner zählen, davon Juden 465.000 und Araber 425.000. Bis dahin, glauben die Stadtplaner von Jerusalem, werden die Wunden der Vereinigung geheilt sein. Man glaubt an eine gegenseitige Integration, Araber sollen in jüdischen und Juden in arabischen Vierteln wohnen — Jerusalem soll eine wirklich vereinte Stadt werden. „Hier im Orient“, sagte Benuenischri, der von Beruf Historiker ist, „muß man Geduld haben und darf nichts übereilen. Denn die Zeit heilt alle Wunden.“

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