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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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DAS WIENER EUROPAGESPRÄCH. Der Ernst der Ereignisse lag auf dem Europagespräch im Wiener Rathaus, zu dem die Stadt Wien eine Reihe prominenter Politiker der westeuropäischen Welt geladen hatte. Wenn es eines drastischen Hinweises bedurft hätte, wie sehr Wien prädestiniert ist, Zentrum der großeuro-päischen Einigung zu sein, hier war er gegeben. Während hier gesprochen und teilweise leidenschaftlich debattiert wurde, wurden im nahen Budapest, der alten Bruderhauptstadt, die Häupter des ungarischen Freiheitskampfes füsiliert. In Wien kann man, das zeigten die Reden und Ansprachen, einfach nicht so leichtfertig über Europa und über Europa hinweg reden wie andernorts. Die Kritik des englischen konservativen Abgeordneten Sir Robert Boothby an einem sich in den letzten Jahren todgerede-fen Europabelrieb war deshalb in jeder Weise hier am Platz. 32 europäische Organisationen reden, streiten sich um Europa, haben vielfach ein äußerst geringes Betätigungsfeld. Dazu haben sogenannte „Speseneuropäer* „Europa“ in einem so zweideutigen Sinne publik gemacht. Nur sachliche Arbeit und sachliche Aussprache können diesen Engpaß überwinden. Für letztere bot im Wiener Europagespräch die Auseinandersetzung zwischen Salvador de Madariaga, dem bedeutendsten Kopf des Weltliberalismus (Oxford), und Carlo Schmid ein eindrucksvolles Beispiel. Der Spanier Madariaga glaubt nicht an eine Möglichkeit einer fruchtbaren Begegnung mit den osteuropäischen Herrschaftsmächten, der Deutsche Schmid, mütterlicherseits französischer Herkunft, bejaht sie. Hier ist der Ansatz gegeben für einen guten Streit: Europa muh nach innen und nach aufjen wachsen im Bewußtsein und der Tat der Freiheit. Noch sind allzu viele Grenzen nach innen hinein, in uns allen, das Hindernis für das Wachsen der Freiheit nach aufjen hin. In Ungarn brach der Versuch, die Freiheit zu gewinnen auch deshalb zusammen, weil eben diese Freiheit im Westen viel zuwenig redlich bedacht, nüchtern verwirklicht wurde.

AUF DEN BANKNOTEN sind Oesterreichs Kunst und Wissenschaft oder ihre Vertreter abgebildet. Aber Banknoten für die dringendsten Erfordernisse der Kultur bleiben nach wie vor rar. Für Bauten hat man im Budget 365, für das Heer 499, für die Eisenbahnen 240 Millionen Schilling vorgesehen, für die Kunst 121 Milliopen, das ist ein Drittel Prozent des Gesamtbudgets. Die vorgesehene, teilweise Steuerfreiheit von Spenden für Kunst und Wissenschaft, so begrüßenswert das Vorhaben ist, reicht keinesfalls aus. Die Hochschulen verlangen eheste Besetzung verwaister Lehrkanzeln, zehn neue Professuren, 20 Assistenten und 30 Honorarrjozenturen. Die Not der berufsbildenden Lehr- und Versuchsanstalten ist unbeschreiblich. Allgemeinbildende Anstalten, etwa die Mittelschulen, sind ohne moderne Lehrmittel. Der Direktor einer Mittelschule erhält monatlich 100 S für Lehrmittel. Namhafte Vertreter unserer Literatur befinden sich in desolaten wirtschaftlichen Verhältnissen. Unerträglich ist das Ausbleiben eines Volksbüchereigesetzes. Erschreckend sind die Zustände bei den meisten Kurorchestern. 1900 S brutto bei Soloengagement gelten als gutes Gehalt. Für die Kulturfilmproduktion müßten mehr Mittel bereitgestellt und Steuerfreiheit für prämiierte Filme gewährt werden. Zusammengefaßt kann gesagt werden, daß nur für die wichtigsten Erfordernisse der Kunst und Wissenschaft 300 Millionen Schilling nötig sind. Die Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Wissenschaff richtete an alle Minister die Bitte, zugunsten des Kultursektors auf ein Prozent der Ressorfbudgels zu verzichten. Ob man offene Ohren finden wird? Oder wartet man an zuständiger Stelle wieder auf eine Slraßen-demonsfration? '

GEGLUCKTE EXPERIMENTE. Westdeutschland gedenkt in diesen Tagen der Währungsreform vom 20. Juni 1948, einer kühnen politischen und finanzpolitischen Operation, welche die Grundlage bildete für den fulminanten wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik. Ueber Nacht, wörtlich, wurde damit ein Volk, das in Hunger, Verwahrlosung, Unsicherheit, Spekulation dahinsiechte, auf einen festen Boden gestellt. Die D-Mark schuf Sicherheit, Arbeitslust, öffnete die zurückgehaltenen Magazine und Rohsfofflager, entband die riesigen Kräfte eines ganzen Volkes. Ohne D-Mark keine Regierung Adenauer, keine Stabilisierung der Verhältnisse in Mitteleuropa. Heute erinnern sich, wie Umfragen erweisen, nur noch wenige Deutsche näherhin an die dramafischen Tage dieser großen, heute fast vergessenen, übersehenen Wende. Zwei Wochen vor der Währungsreform erschien in Stuttgart die erste Nummer von „Christ und Well“. Ein protestantischer Kreis um Eugen Gerstenmaier, den heutigen Bundestagspräsidenten und Mann des deutsch-konservativen Widerstandes gegen Hitler, hatte sich hier zusammengefunden, um eine innere Basis für den Wiederaufbau mitzuschaffen durch eine verantwortungsvolle Publizistik. „.Christ und Welt' wollte von Anfang an die versperrten oder blind gewordenen Fenster aufstoßen, die geistige Abschnürung und Inzucht der Deutschen mit zu überwinden suchen, es war anderseits aber auch bemüht, den im Bild der Geschichte so schwankenden Standort unserer Nation besser zu fixieren.“ Diese Worte des heuligen Chefredakteurs von „Christ und Welt“ zeigen das große, echte und notwendige Anliegen auf, dos, in verwandter Form, auch für uns gilt: die „Furche“ hat vom Anfang an die verantwortungsbewußte Arbeil von „Christ und Welt“ um eine innere Sanierung des deutschen Volkes (Seipel hatte von der notwendigen Sanierung der Seelen gesprochen, der Mann der österreichischen Währungsreform von 1924) mit aufrichtiger Anteilnahme und Sympathie verfolgt und wünscht diesem Organ, das kein Freund der Freiheit und des Friedens, gerade auch des konfessionellen Friedens im deutschen Raum, vermissen möchte, alle guten Kräfte zur Fortführung des großen Werkes, das da in Stuttgart begonnen wurde, im Juni 1948, vor der Währungsreform ...

DER MUSCHIK UND DIE WELTPOLITIK. Während in Moskau und Peking die Parteibüros den Kampf gegen „Diversanten“ im Inneren und Aeußeren, gegen Tito und wohl auch schon Polen, organisieren und koordinieren, kämpft Chruschtschow einen verzweifelten Kampf um sein Palladium: als „Bauernbefreier“ will er in die Geschichte eingehen und konkret sich jene verlorene Macht, durch Popularität bei den breiten ländlichen Massen, rückgewinnen, die ihm die sfalinistischen Integralisten vielleicht schon am 23. Oktober 1956, am Tag der Erhebung

Ungarns, entrissen haben. In vielstündiger Rede begründete er sein geplantes Reformwerk der sowjetischen Landwirtschaft, das denn auch vom Zentralkomitee angenommen wurde. Der neue Plan sieht die Abschaltung der landwirtschaftlichen Pflichtablieferungen, den Fortfall der Entlohnung der Maschinenstationen in Naturalien (einen „Zebent“ der untertänigen Bauern an den Staat) sowie den Uebergang zum freieren Ankauf landwirtschaftlicher Produkte bei gleichzeitiger Erhöhung der Preise vor. Den Kolchosbauern werden alle Naturaischulden erlassen. — Müfjig sind heute Spekulationen darüber, ob Chruschtschow, wenn er sich hält, als „Bauernbefreier“ eines späteren Tages wieder zur Liberalisierung zurückkehren wird, zu seinen Versuchen vor dem 23. Oktober 1956, eine Föderation verbündeter Staaten an die Stelle des monolitischen Moskauer Zentralismus zu setzen. Weniger müßig isj eine andere Ueberlegung: es scheint fast so, daf) eine Gipfelkonferenz vor allem auch deshalb in weite Ferne gerückt ist, weil, aus sehr verschiedenen Gründen, Eisen-hower und Chruschtschow einfach nicht mehr die notwendige Macht besitzen, um über die Köpfe der öffentlichen Meinung und der starken Gegengewichte in ihren riesigen Ländern jene kühnen Entschlüsse täligen können, zu denen sie 195S in Genf im Vollbesitz der Autorität befugt waren.

DER SCHUSS AUF DEN PRÄSIDENTEN. Es ist so weit: das in sech$ Jahren strapazierte Regiment Eisenhowers, belastet durch außenpolitische Inaktivität und Mißerfolge und die wirtschaftliche Rezession im Innern, wird von seinen Gegnern nunmehr bereits in der Zitadelle angegriffen. Es geht, in jeder Hinsicht, um den Kopf des Präsidenten. Darüber sind sich Eisen-hower und die Republikanische Partei klar, indem sie sich schützend vor Sherman AdarrYs stellen. Der „mächtigste Mann“ in den USA, so wurde er von Freund und Feind genannt. In seiner Hand lag faktisch die Regierung, liefen die vielen Fäden zusammen, die in früheren Tagen Präsidenten, gesund und stark, nie selbst aus der Hand gaben. Nicht nur während der langen Abwesenheiten, sondern auch in der Zeit, in der Eisenhower in Washington weilt, besorgt das Büro seines „Assistenten“ Adams die faktische Arbeit der Regierung, trägt Sorge für Kontinuität, für die Aufarbeitung des Konkreten. Eisenhower hafte bereits bei seiner ersten Wahl in schöner Offenheit erklärt, dah er für solche Arbeiten persönlich nicht zu haben sei. Immer mehr Agenden, die noch ein Truman selbst besorgte, gingen in die Hände von Sherman Adams über. Adams, aus einer der ältesten Pafrizierfamilien der USA stammend, zwei Präsidenten kommen aus seinem Geschlecht, hat den Wahlsieg der Republikaner 1952 durch seine Kampagne gegen die „Korrupfion“ der Demokraten geprägt. Das war das Motto, auf das der Mann von der Strafte hörte. Nun hat ihm, im Verhör, der Kongreß nachgewiesen, daß er von dem Millionär Goldfine, einem Emporkömmling aus Litauen, Geschenke annahm: Kleider für seine Frau, einen kostbaren Mantel für sich selbst, Hotelrechnungen,“ von Gtjldfirie bezahlt, bis zum Trinkgeld. Adams hat für Goldfine Erkundigungen in Regierungsämtern eingeholt... _ Eisenhower will, muß Adams halten. Der Schuß gilt ihm persönlich. Mit dem Verhör seines engsten Mitarbeiters hat der amerikanische Wahlkampf 1960 begonnen, der heiß und schwer sein wird und für Europa und die ganze Welt bedeutungsvoll.

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