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Gott lebt...“

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Als Nathan Söderbiom, Erz-bischof von Uppsala und bedeutender Religionsforscher, am 12. Juli 1931 starb, rief er auf seinem Totenbett: „Gott lebt! Ich kann es beweisen, aus der Religionsgeschichte!“

In den frühen achtziger Jahren war es dem Ethnologen A. W. Howitt gelungen, sich in die geheime Jugendweihe der südostaustralischen Primitivstämme einfuhren zu lassen; er kam mit der Mitteilung nach Hause, daß diese „Primitiven“ an einen höchsten Gott glauben, Schöpfer Himmels und der Erde, Vater im Himmel, Gutes belohnend, Böses bestrafend.

15 Jahre später griff der schottische Ethnologe Andrew Lang die Berichte Howitts wieder auf und stützte sie durch ähnliche Nachrichten, teils wiederum aus Australien, teils von den Zwergvölkern auf den Andamanen-Inseln, von Buschmännern, Hottentotten, Zulus, ost- und westafrikanischen Stämmen sowie den Indianern Nordamerikas und des Feuerlands. Das Material war derart, daß der ursprünglich geäußerte Verdacht „europäischen, besonders missionarischen Einflusses“ nicht gut aufrechtbleiben konnte.

Lang starb 1912. Im gleichen Jahr erschien der erste Band des „Ursprungs der Gottesidee“ vom Wiener Universitätsprofessor P. Wilhelm Schmidt. Das Werk, bis zu dessen Tod (1954) auf zwölf Bände angewachsen, brachte eine grandiose Fülle von Belegen für Längs „High Gods“ — für „Hochgötter“ im Stil der monotheistischen Hochreligionen, und dies gerade bei den urtümlichsten aller Naturvölker.

Eine neue Akzentverschiebung

Im vorigen Jahrhundert hielt man den lieben Gott für das Endprodukt einer Entwicklung, an deren Beginn (grob gesprochen) die Anbetung eines steinernen Fetisches gestanden war — wie man sich selbst, mit Bart, Vatermörder und goldener Uhrkette, für das Endprodukt einer Entwicklung hielt, die (populär gesagt) mit einem fellbekleideten Affen den Anfang genommen hatte. In der ersten Hälfte unsere» Jahrhunderts postulierten dann die Entdecker des „Urmonotheismus“ in begreiflicher Entdeckerfreude statt der Evolution vom „primitiven“ zum „höheren“ Glauben eine Art Konterevolution (Plato hätte seine Freude daran gehabt) von der hochstehenden Religion der „Primitiven“ zum Abfall in Fetischismus, Zauber- und Geisterglauben, Vielgötterei bei den entwik-kelten Natur- und alten Kulturvölkern. Noch vor der Mitte unseres Jahrhunderts vollzieht sich dann die Synthese aus den beiden Schulen.

Die Schlüsselworte der Synthese heißen „Theophanie“ und „Hie-rophanie“: In allen religionsgeschichtlichen Materialien, in Fetischismus, Zauber- und Geisterglauben, die von den einen als Frühstufen, von den anderen als Verfallsstufen der Religion angesehen worden waren, und nicht nur im reinen Eingottglauben, der von den einen als höchste Stufe, von den anderen zugleich auch als Urstufe der Religion angesehen worden war — in alledem erscheint das Göttliche, das Heilige.

Wissenschaft und Welt

Religionswissenschaft war bis dahin mit dem „Ursprung und Werden der Religion“ befaßt — dies der Untertitel des Pater-Schmidtschen Handbuchs der Religionsgeschichte (1930). Nun wird sie zur Wissenschaft von „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ — dies der Titel des ersten Bandes von Friedrich Heiler in der monumentalen Reihe „Die Religionen der Menschheit“, welche nun im W.-Kohlhammcr-Verlag, Stuttgart, zu erscheinen beginnt und auf 34 Bande angelegt ist, herausgegeben von Christel Matthias Schröder. Damit wird die erste Summe der modernen Religionswissenschaft vorliegen, welche sich als Religionsphänome-nologie begreift.

Es bedarf keines besonderen Hinweises, daß die neue Richtung der Religionswissenschaft in engem wechselseitigem Zusammenhang mit dem allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zustand der Gegenwart steht — alle Ideen hängen auf diese Weise mit dem Realen zusammen; sie völlig abseits und unabhängig hiervon zu fassen überstiege alle menschlichen Möglichkeiten.

Die 36 Bände, je 300 bis 400 Seiten größeren Formats, der Kohlham-merschen Reihe „Die Religionen der Menschheit“ werden ein eindrucksvolles Zeugnis von der Wirkungskraft der neuen, einen Welt auch auf dem Felde der Religionswissenschaft ablegen. In solcher Vollständigkeit wird der religiöse Bannkreis der Menschheit noch niemals durchschritten worden sein. Mit solcher Eindeutigkeit wird noch niemals die letztliche Einheit von Religionswissenschaft und Theologie demonstriert worden sein. Ludwig Feuerbaeh, Vater des marxistischen Atheismus, schloß, was er für die wissenschaftliche Phänomenologie der Religion hielt („Das Wesen der Religion“, 1849), mit der Behauptung, daß „der einzige Gott des Menschen der Mensch selbst ist“. Ein Jahrhundert später beginnt Heiler seine wissenschaftliche Phänomenologie der Religion mit den Sätzen:

„Der stärkste Halt, die höchste Würde, der größte Reichtum, die tiefste Seligkeit eines Menschen liegt in der Religion ... Wer Re-» ligion studieren will, muß Gottesdienste besuchen, und zwar aller Religionen und Konfessionen, und sich sowoW mit kultischer wie mit puritanischer Frömmigkeit vertraut machen. Er muß eintauchen in die Atmosphäre des Heiligen ... Religionswissenschaft muß immer die Gesamtheit der Religionen und Konfessionen im Auge behalten ... Die Erscheinungen sind nur zu untersuchen um des Wesens willen, das ihnen zugrunde liegt... Man muß überall hindurchbohren zum Kern der religiösen Erfahrung ■ ■ ■ Zum unmittelbaren religiösen Leben ... Ehrfurcht vor aller wirklichen Religion . . . Ernstnehmen des religiösen Wahrheitsanspruches: Man kann Religionen nicht recht verstehen, wenn man sie als Aberglaube, Illusion, als Popanz abtut.. . Glaube, aber nicht Glaube im Sinne eines bestimmten theologischen oder konfessionellen

Dogmas. Die größten Religionsfor-■ scher... haben an Gottes Offenbarung geglaubt, aber an seine Offenbarung in allen Religionen der Menschheit.“

Sechs Bedenken

Daß solche Methode Nachteile hat, liegt auf der Hand:

1. An die Stelle der hierarchischen Ordnung möglicher Gegenstände menschlicher Religiosität (der Entwicklungsgedanke der alten Religionswissenschaft hatte eine solche Hierarchie dargeboten, wenn auch eine verkehrte) tritt ein synoptisches Nebeneinander. Man läuft Gefahr, zu übersehen, daß Stein, Urin, Geschlechtsverkehr und Gott, obgleich insgesamt Erscheinungsweisen des Heiligen, dies doch in sehr verschiedenem Grade sind. Insofern neigt die neue Schule zum Relativismus.

2. Sie ist nicht nur relativistisch in bezug auf die hierarchische Ordnung im Universum des Heiligen, sondern, was wissenschaftlich noch schwerer wiegt, mit Bezug auf die Geschichtlichkeit, in der diese Formen im Bereich von Zeit und Raum ans Licht treten. Die bisherigen vier Bände der Reihe vernachlässigen die historischen Zusammenhänge zugunsten der phänomenologischen Beschreibung auf besondere Weise. Insofern neigt die neue Schule zum Ahistorismus.

3. Im grandios kompletten Sammelsurium der Hierophanien ist das Reich der Objekte viel größer als das Reich des Menschlich-Personalen und dieses wiederum viel größer als das Reich des Göttlich-Personalen. In dem 604 Seiten starken Band Heilers umfaßt der Abschnitt „Gott“ gerade noch 15 Seiten, der •Abschnitt über den urtümlichen Hochgottglauben nach Art des Monotheismus insgesamt eine Seite (456/457). Insofern neigt sie zum Impersonalismus.

4. Im Kontrast zum evolutionären Aberglauben der Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts hatte die Schule Andrew Längs und P. .Wilhelm Schmidts den urtümlichen Theismus vielleicht allzusehr, unter Vernachlässigung der übrigen religiösen Elemente, in den Vordergrund gerückt. Die neue Schule sieht, wieder im Kontrast dazu, Göttliches, das heißt die Kräfte des Heiligen, sozusagen in allem und jedem — als handelte es sich um ,,Mana“ (Geladenheit mit heiliger Zauberkraft) im Sinne der polynesischen Religionen. Insofern hat die neue Schule einen mystischen, romantischen Einschlag; sie neigt zum Pantheismus, richtiger : zum Theopantismus.

5. Ihr „Hindurchbohren zum Kern der religiösen Erfahrung, zum unmittelbaren religiösen Leben“ vollzieht sich, indem unterwegs die Vernunft als Quelle der religiösen Kraft ziemlich außer Perspektive gerät und nur die Emotion als solche Quelle übrigbleibt, etwa Schleiermachers „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit“. Insofern neigt die neue Schule zum Irrationalismus.

6. Alle bisher angeführten Bedenken vereinigen sich für den in bestimmter Richtung religiös Gebundenen zu dem weiteren Bedenken, daß die neue Schule das Wesen des Religiösen sozusagen durch Destillation aus den Religionsformen aller Zeiten und Zonen zu gewinnen scheint. Insofern neigt sie zum Synkretismus.

Es wäre nun gänzlich verkehrt, wollte man diese sechs Bedenken dem einen großen Vorzug der echt universellen Religiosität dieser ersten universellen Religionswissenschaft gegenüberstellen. Der Vorzug wiegt viel schwerer als die Nachteile. Zur Breitendimension der universellen Beschreibung der Erscheinungen, zur Höhendimension der religiösen Wesensschau brauchte vermutlich nur die historische Tiefendimension treten, um die meisten angeführten Bedenken erfolgreich zu zerstreuen. Die eminent historisch gesinnte „Wiener Schule“ des Pater Schmidt hat hier ganz wesentliche Vorarbeiten geleistet. Bei einer Synthese aus ihr und der neuen Religionsphänomenologie scheint die Zukunft der modernen Religionswissenschaft zu liegen.

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