6558087-1948_33_09.jpg
Digital In Arbeit

Das Meer

Werbung
Werbung
Werbung

Auch die schönsten Landschaften der festen Erde müssen am Ende den Reichtum ihrer Bilder ausschöpfen und uns einen Tag schenken, an welchem wir die Ermüdung der Sinne spüren. Das Meer kann uns nie langweilen: ewiger Wandel ist seine Natur, Unbeständigkeit «ein Gesetz, Unruhe seine Seele. Das Meer kann uns betrüben, erbittern, quälen, aber es kann uns nicht langweilen. Wir können vor dem Meere fliehen, kehren wir aber wieder zurück, empfinden wir es um so mehr, daß wir mit ihm eng verbunden sind; wir können es manchmal wie Schiffbrüchige verfluchen, aber nur, um uns später nach ihm zu sehnen und seiner mit Bewunderung und Ehrfurcht zu gedenken.

Wenn auch das Meer der Schauplatz der gigantischen Kämpfe der Elemente ist, vor dem unser Atem aussetzt, wenn es sich auch wie die grausamste zerstörende Einöde zeigt, ist es doch in seiner Ruhe großartig, es scheint mit seiner kostbaren Ruhe zu berauschen und mit unsagbarer Sanftmut zu den Herzen der Menschen zu sprechen. Am frühen Morgen, wenn die weißbläuliche Oberfläche schläft, ohne die geringste merkliche Bewegung im Augenblicke des Überganges, wenn es die Sonne noch nicht berührt hat und wenn es langsam, unmerklich den unbestimmten Glanz des blassen Himmels, aus der Nacht hervorgehend, annimmt: dann ist das Meer so geheimnisvoll und feierlich in seiner unüberblickbaren Ausdehnung sich im leichten Nebel des weiten Firmaments verlierend. Es schafft uns noch stärkeren Eindruck seiner großen Ruhe, wenn in der Nacht über ihm der Sturm tobte und wir in der Finsternis seine tiefen, schauderhaften Choräle hörten.

Das Ruhen dieses blassen, unendlichen, ungetrübten Spiegels, das tiefe Rasten dieses träumenden Antlitzes, das wir oft zerrissen sahen, mit Nebel und Wolken bedeckt, erweckt in uns das Gefühl ursprünglicher Frische und versetzt uns in die ersten Tage der Menschheit, uns mit Einsamkeit erquickend und mit der Erkenntnis, daß auch wir ein Teil der großen, rätselhaften Schönheit sind.

Nach einem Unwetter schläft das Meer wie eine Seele, welche die ganze Nacht schauderhafte Träume und verzweifelnde Gedanken quälten. Jetzt ruht es sanft im Morgengrauen, das Antlitz mit der klaren unendlichen Stille fächelnd. Eine kalte Schönheit, wie ohnmächtig und unerreichbar geheimnisvoll in ihrer Erschöpfung.

Die Stille des Meeres in den Mittagsstunden, wenn die Sonne vom Süden die Breiten erobert, erweckt in uns tiefe Lebensfreude, gibt uns das Gleichgewicht der Sehnsüchte in diesem Augenblick, wenn die Bäume unbeweglich stehen und die hellen weißen Küsten neben den Wassern fließen.

Alles ist Harmonie der Stille: das Meer, die Steine und das Ruhen der blauen, gefesselten Fläche, welche die Sonne weit und breit mit einer Fülle von Silber überflutet. Weiß glänzen die hohen zerspaltenen Felsen, die senkrecht ins Meer stoßen, gleichsam aus ihnen emporwachsend. Dies ist die Verbundenheit mit der tiefen Seele des Tages:' ein sonniger Mittag auf der Insel Pag im dalmatinischen Meer. Alle Bitterkeit des Lebens und unerfüllte Wünsche vergessend, empfangen wir diese glühende Stunde wie die Ruhe der irdischen Gewalten. In dieser Mittagsstunde scheint es uns, als ob das Leben auf einem hellen Rande zurückgehalten wird, wie in der Ferne große Segel bei Windstille: ein Augenblick, in dem wir die Zeit aufhalten möchten.

Keine Stille kann man mit jenem Eindruck vergleichen, wenn wir in der Abenddämmerung eines trüben Tages auf das offene Meer in einem kleinen Schiff allein oder mit einem schweigsamen alten Seemann fahren. Das Meer schlummert sanft, gleichmäßig beschattet. Da erwacht in uns allmählich das Gefühl der unirdischen Einsamkeit, der Trennung von den menschlichen Grenzen. Der Tag sinkt, und, wie Loti einmal sagte, indem sich das Meer immer mehr in den Schleier der Dunkelheit hüllt, empfinden wir immer stärker das Meer, und dies sind Gefühle der Versöhnung mit dem Tode, Vergessen und Verzeihen für alles.

In solcher Stunde ahnen wir auch den Sinn der küstenländischen Legende von der versunkenen Kathedrale, wie sie Debussys Musik ausdrückt. Vor grauer Zeit verschlang das Meer an der Küste in der Bretagne eine

Kirche; sie ruht in der Tiefe, aber einmal im Jahre, wenn das' Wasser besonders ruhig und durchsichtig ist, frühmorgens, erhebt in sich langsam aus dem Meeresgründe, wächst, taucht empor, und nun vernimmt man undeutliche Stimmen, und wenn sie vollkommen erscheint, strahlend und majestätisch stillsteht, ertönen festlich die Glocken, die Stimmen werden klar, die Orgel erschallt und der Hymnengesang der Priester hallt im Chor wieder, alle Stimmen verschmelzen in erhabener Harmonie. Aber nicht lang und sie versinkt wieder im Meer, die Stimmen werden leiser, die Orgel verstummt: die Kathedrale versinkt, bis sie das Meer wieder überdeckt und die unendliche Stille des Ozeans.

Unsere Seele ist im Alltag wie diese versunkene Kathedrale. Und nur wenige Augenblicke können sie aus dem langen Schlaf erwecken und ihr kostbare und zauberhafte Stimmen entlocken.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung