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Glanz und Elend des Liberalismus

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Der Liberalismus als politisch-wirtschaftlicher Grandsatz ist jünger als das liberale Denken. „Liberaliter“, dieses lateinische Adverb, übersetzt noch der alte Stowasser in seinem Wörterbuch mit .frei, edel, eines freien Mannes würdig“ und die beigefügten Zitate klassischer Schriftsteller beweisen gleiche Sinnbedeutung vor 2000 Jahren. Aus liberalem Denken entsprang jener Toleranzbegriff, der die Geister des 18. Jahrhunderts zu einer Art Religion der Menschlichkeit einte.

Aber diese Humanität des 18. Jahrhunderts war nichts anderes als die Abendröte der Christenheit des Mittelalters. Man darf diese historische Grundtatsache bei der Lektüre der schärfsten Pamphlete Voltaires, bei den bissigsten Causerien der Salons im ancien regime nicht vergessen. Man darf nicht außer acht lassen, daß damals das christ-lich-theistische Erbe noch als tragfähiger Grund vorhanden war — wie einst im Mittelalter. Die Grundwahrheiten der christlichen Religion, im Gewände der sogenannten „natürlichen Theologie“ ausgesprochen, wurden stillschweigend anerkannt. Auchdie„edlenHeiden“, die Candide, Nathan, Selim Basso, Sarastro und wie sie heißen mögen, handeln praktisch nach den weltlich for-, mulierten Grundsätzen einer christlichen Moral. Ja, selbst die schrankenlos genannte Freiheit der Geniezeit, Goethes Helden vom Werther bis zum Wilhelm Meister der Wan der-jahre, all das versteht sich immer noch in einem Bezirk, der durch die berühmten drei Ehrfurchten“ eingesäumt ist. Selbst in verbissenster Fehde und Auseinandersetzung lebt noch ein Rest alt-ritterlichen Turniergeistes, unausgesprochen-verbindlicher Kampfregel. Ohne Wesentliches preiszugeben, konnte selbst Papst Benedikt XIV, noch mit Voltaire korrespondieren. Natürlich war diese Epoche europäischen Denkens und Handelns problematisch genug. Aber bei allen Bedenklichkeiten kann man nicht leugnen, daß in ihr, im Vergleich zu unserm Jahrhundert, der damals entstandene humanitäre Liberalismus nicht die Gefahr war, als welche sein Erbe heute erscheint.

Denn: seit dem endenden 19. Jahrhundert ist die Konzeption einer vernunftmäßigen Brüderlichkeit natürlicher Menschengemeinschaft von den maßgebenden Köpfen nicht christlichen Denkens aufgegeben worden. Die Wege haben sich geteilt. Wer um die Werte der Humanität trauert, kann sie nur an einem Ort wiederfinden, wo sie von Anbeginn her .aufgehoben“ waren, in der Weite christlichen, Natur und Gnade gleichermaßen umspannenden Denkens. Waraber an der atheistischen, die Religion als .dunkelmännischen Fanatismus“ brandmarkenden Ausgangsstellung des Liberalismus festhalten will, muß sich, zumindest auf längere Zeit, von der Schönheit irdischer Verwirklichung lossagen. Die heute weltbeherrschenden Systeme nicht- oder antireligiöser Art, die allesamt im Gefolge liberalen Denkens entstanden sind, haben gerade die Begriffe .Toleranz“ und „Humanität“ praktisch außer Kraft gesetzt. Der stalinistische Materialismus wie der moderne atheistische Existentialismus verschiedenster Spielart sehen in ihnen bestenfalls noch Museumsstücke. Die Existentialisten sind allerdings ehrlicher. Sie haben auch diese verleugneten Ahnenbilder mit großem Schwung in die Rumpelkammer geworfen. Der andere Gesprächspartner aber, der seiner inneren Dynamik und Konsequenz nach sehr schnell alle geistigen Kräfte, die am grundsätzlichen Atheismus festhalten, an sich ziehen und zu einer „kirchen'-ähnlichen Gemeinschaft vereinigen will, spielt heute noch sehr gewandt mit der alten Karte des Liberalismus von Anno dazumalI

Wollte man. heute jemandem Guldenscheine der alten Monarchie in die Hand drücken, würde er sie entschieden zurückweisen, mit dem Bemerken, sie seien von einer Regierang und unter Verhältnissen als gültiges Zahlungsmittel ausgegeben worden, die heute nicht mehr bestehen. Diese Scheine seien Museumsstücke, oder, wenn man sie in den heutigen Geldumlauf einschmuggle, betrügerisch verwendetes Falschgeld. Niemand aber wird leugnen, daß sie zu ihrer Zeit vollen und gültigen Wert besaßen.

Die Begriffe „Humanität“, „Toleranz“, „Liberalität“ wurden zu einem Zeitpunkt geprägt, dem Papier des Tages aufgedruckt, als die stillschweigende Golddeckung abendländisch-christlichen Erbes noch bei allen Bewohnern dieses Kontinents gesichertwar.

Soll das also heißen, daß diese Grundsätze endgültig aufgegeben werden müssen, daß Scheiterhaufen und Ketzergericht an ihre Stelle treten sollen? Nichts weniger als das! Denn das hieße, daß sich die christliche, die in des Wortes Ursinn katholische Welt die in ihr wesensmäßig und geschichtlich vorhandenen Werte echter humanitas, echter Duldsamkeit, echter Gesprächsbereitschaft vergiften und zerstören ließe, von jenen vergiften ließe, die als späte Erben des frühen Liberalismus unter seinem historisch berufenen Namen seine ureigentlichen Grundsätze verraten. Für die Freiheit des einzelnen im kommenden Idealstaat, der den Thesen führender Marxisten nach den Traum der Utopisten des 18. Jahrhunderts verwirklichen soll, schränkt der Sowjetstaat die Freiheit seiner Millionen Untertanen in einer für Westeuropa noch nicht erlebten Weise ein. „Für die Freiheit des Glaubens“ bekämpft eine kleine Clique kämpferischer Atheisten die Millionenmassen gläubiger Ungarn, Tschechen und Polen in ihrem ureigensten religiösen Leben. Und dabei kann man nicht einmal sagen, daß es sich um eine bewußte Propagandalüge handelt. Denn jeder intellektuelle Kommunist fühlt sich als Testamentsvollstrecker der Aufklärung und des Bastillesturms im 18. Jahrhundert, mithin also auch der liberalen Humanität, die er „vom Kopf auf die Füße stellt“, von den Wolken auf die Erde holen will. Angesichts dieses Unterfangens aber entlarvt sich der Liberalismus, seiner christlichen Golddeckung beraubt, als Gedankenspiel im luftleeren Raum professoraler Spekulation. Wo der Liberalismus Wirklichkeit, geschichtliche Kraft war, verwirklichte er, teilhabend am echten Sein, die von Gott geschaffene, von Gott geliebte menschliche Natur. Wo er diese Nabelschnur durchschnitt, wurde und wird er zur leeren Phrase, denen dienend, die ihn brauchen.

Der alte Liberalismus ist tot. Der Glanz seiner klingenden Worte kann darüber nicht hinwegtäuschen. Um so freier ist die Bahn für eine neue Toleranz, die sich ihres religiösen Ursprungs wieder bewußt ist, die sich stolz „menschlich“, human nennt, den Menschen in seiner vollen gottebenbildlichen, zur höchsten Verklärung und zum Ewigen Leben hin angelegten Natur verstehend und selbstbewußt verkündend. Um dieses neue Brot der weit- und lebensbejahenden vollen Menschlichkeit zu backen, muß kundige Hand den alten Sauerteig entfernen. Historische Verehrung den Großen der liberalen Humanität gegenüber darf nicht dazu verleiten, ihre als Falschmünzen eingeführten Worte nachzubeten.

Die Begriffskditterang des „realen Humanismus*, mit der eine sehr reale, Humanismus und Humanität nicht unterscheidende Weltzentrale des kämpferischen Atheismus Proselyten machen Will, auch die Streitgespräche, ob der Liberalismus in der Praxis auf kürzere oder längere Zeit außer Kraft gesetzt, ob diese Tatsache zugegeben oder nichtzugegeben werden kann, sind im Grunde keine Hauptthemen des sich selbst wiederfindenden geistigen Abendlandes. Man lasse die Toten ihre Toten begraben.

Unsere Generation wird und muß ganz neu zum ewigen Gold finden. Dann wird ihr alles übrige hinzugegeben werden.

Auch eine neue Tolerant, eineneue Humanität, die echt gewachsen sein werden.

Bei diesem Geschäft aber gilt es, sachlich und entschieden vorzugehen. Die alten Scheine müssen aus dem Handel gezogen werden. Ohne neue Deckung sind sie Falschgeld.

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