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Alltag und Mythen

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Griechenland treibt1 zur Zeit ein politisch nicht ungefährliches Spiel. Allzu nahe läge es, den innerpolitischen Machtkampf mit der antiken Tragödie gleichzusetzen, jener Auseinandersetzung zwischen Menschen, Göttern und Halbgöttern, in der die Sterblichen eine Schuld auf sich nehmen, für die sie nicht können. Das kleinliche, wenngleich vielleicht folgenschwere Gezänk, das die Massen auf die Straße treibt, steht in auffallendem Gegensatz zu der Idee, die in den griechischen Dramen sich widerspiegelt. So wären denn die griechischen Feste, die sich um den Kern, um die Festivals in Athen, Epidauros und Dodona, vom Mai bis November landauf, landab erstrek-ken, doch nur eine Mammutwerbung für den Tourismus, ohne Bezug zur neugriechischen Wirklichkeit?

Wer einmal in Epidauros war, ist eines Besseren belehrt. Vierzehntausend Besucher faßt das berühmte Theater aus dem vierten Jahrhundert vor Christi — beim „ödipus“ des Sophokles ist es offenbar ausverkauft, bei einem außerhalb Griechenlands kaum bekannten Euripides, dem „Herakles“, sind vereinzelte Plätze frei. Nur „Die Troerinnen“ des Euripides ziehen weniger Zuschauer an — vielleicht, weil die Griechen hier als grausam und siegestrunken geschildert sind? Die Vermutung ist nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag: das Geschick des ödipus, die Falschheit der Klytäm-nestra in der „.A0amemnon“-Tragö-die des Aischylos — das alles, die Verstrickung durch die Götter und das aufsässige Pathos des Menchen, ist hier Gegenwart. Das Publikum folgt der Handlung, obwohl es sie zweifellos kennt, hellwach und voller Spannung. So entsteht eine zweite Wirklichkeit, und in ihrem Licht wird die athenische zu einem wilden, zügellosen Abreagieren, von denjenigen ausgebeutet, denen das griechische Schicksal im Grunde völlig gleichgültig ist.

Die sommerliche Kulturwelle ist, daran kann gar kein Zweifel sein, in erster Linie für. die Griechen bestimmt. In Erinnerung an die Blütezeit der athenischen Demokratie, da die Kunst wahrhaft dem Volke diente und die Menge bildete, soll ein neues, glücklicheres Dasein für den kleinen Mann anbrechen — der aber meist nur kärglich sein Leben fristet und vielleicht noch dringendere Sorgen hat als Kunst. Der Festspielauftrieb erinnert ein wenig an sozialistische Utopien, und dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man erfährt, daß ein monarchisch-konservativer Direktor über ein anti-monarchisches Stück stolperte, das er nicht aufführen wollte. Anderseits bewirkt das breite und überwiegend auch attraktive Angebot der neuen Festspieldirektion zumindest für das Athener Festival einen Zuwachs an Internationalität, den das immer noch etwas abgekapselte Griechenland gut gebrauchen kann, soll die Diskrepanz des heutigen Alltags mit der Idee des Griechentums allmählich schwinden. Erstaunlich ist an diesem Angebot der große Anteil neuer, ja avantgardistischer Musik. Sie wird dem Vernehmen nach sogar überraschend frequentiert, was bedeuten würde, daß — ganz im Sinne der Alten — im Volk eine Aufgeschlossenheit für das Esoterische besteht.

Neben griechischen Schauspielensembles, Orchestern und Chören gastiert im Odeon des Herodes Attikus — am Südhang der Akro-polis — ein japanisches No-Theater, kamen oder kommen Orchester aus Oslo, London, Oxford, Prag, Warschau, Sofia, Paris, Wien, Tel Aviv, Leipzig, Berlin, Freiburg im Breisgau und Marlboro (USA), Chöre aus Warschau und Sofia, gibt das New York City Ballet ein viertägiges Gastspiel; in Epidauros gastierte die Pariser Oper mit der Maurice-Bejart-Inszenierung von Berlioz' „La Damnation de Faust“, während die Berliner Philharmoniker und der Wiener Singverein unter Herbert von Karajan für den 12. September noch erwartet werden: wer in den ersten Reihen sitzen will, muß dann allerdings — für das „Requiem“ von Verdi — 400 Drachmen (das sind etwa 55 Mark) auf den Tisch legen. Nach dem neuen Konzept dominiert in Athen nicht mehr das antike Drama, da« dafür die Theater in Epidauros und Dodona beherrscht. Die Akzente haben sich zum Neuen, zum Wagnis und zur Avantgarde hin verschoben: mit Spannung darf man in Athen die Internationale Biennale für moderne Plastik erwarten, eine große Freilichtausstellung auf dem Philopappos oder Musenhügel, die mit einer Round-Table-Konferenz über „Probleme der modernen Plastik“ eröffnet wird und zwei Monate lang zu besichtigen ist.

Wie wird nun die Tragödie des Aischylos, des Sophokles und des Euripides — das Herzstück griechischer Kultur — gegeben? Sie soll den Menschen von heute verständlich sein, ihn unmittelbar angehen: darum wird sie grundsätzlich in neugriechischer Übersetzung gespielt. Ohnehin wissen wir zuwenig über das Selbstverständnis der Griechen in der Antike. Am meisten hilft uns die Plastik, in der das Geistige leibhaftig ist — ähnlich wie der Gott im Tempel sich anwesend zeigt. Der Raum prägt die Aufführungen mit: in Epidauros wirkt die Tragödie härter, monumentaler, archaischer als in Athen, wo man — in dem römischen Theater des Sophisten Herodes Attikus — den Einfluß hellenistischer Skulptur mit ihrer Neigung zur Glätte und zum Genre zu verspüren meint. Aber man muß sich wohl auch hüten, als Fremder zu sehr in kunstgeschichtlichen Kategorien zu denken — zumal wenn es um das unmittelbare, logisch gar nicht faßbare Reagieren des griechischen Menschen auf seine Überlieferung geht. Die Vertrautheit mit den Mythen bannt ihre Schrek-ken, läßt die Distanz der Feierlichkeit nicht zu; mag uns der berauschte, kraftmeierische Herakles — in der „Alkestis“ des Euripides — übertrieben vorkommen: wie doppelt menschlich ist er doch, wenn er sich dann entschließt, Alkestiis aus dem Totenreich zurückzuholen!

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