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Im Licht der Antike

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Das Interesse am altgriechischen Drama wächst ständig. Aber alle Aufführungen antiker Dramen an unseren Bühnen haben ihre Achillesferse: den Chor. Ob er nun statuarisch erscheint oder aufgelöst äst in Einzelsprecher — von der Selbstverständlichkeit, mit der in den meisten Aufführungen des Griechischen Nationaltheaters und anderer griechischer Ensembles der Tanz- und Singchor agiert, von der dramatischen Intensität der Wechselgesänge, von der harmonischen und zugleich gespannten Beziehung zwischen Orchestra und Proszenium ist man am deutschsprachigen Theater weit entfernt. Der Grund für dieses Versagen liegt nicht in der mangelnden Fähigkeit des Erkennens, sondern in der Theaterpraxis. Uns fehlt die Möglichkeit, die besten Schauspieler in den Chor zu entsenden und diesen dann ein Viertel- oder ein halbes Jahr proben zu lassen. Das Wort „Chor" hat hier — für Griechen kaum glaublich — immer noch einen degradierenden Beiklang.

So reisen denn griechische Ensembles, hervorragende und minder gute nach Deutschland und Österreich, nach Frankreich und in die Schweiz, und es ist vor allem das meist sehr präzise Chorinstrument, das Begeisterung auslöst. Auf den diesjährigen Zürcher Junifestwochen gastierte das von Karolos Koun geleitete Kunst-Theater aus Athen mit den „Vögeln“ des Aristophanes: die Zustimmung war mit Recht stürmisch. Auf den Athener Festspielen sah ich von demselben Ensemble und von Koun inszeniert das weniger bekannte Gegenstück „Die Frösche“: ein wahres Volksfest für das Publikum, Synthese von literarischem Kabarett, Musical, Volksstück und gehobener Komödie, all das eingebettet in den Grund des Bacchantischen. Koun hat die paro- distischen Momente verstärkt und anderseits das Expressiv-Dionysische in den Bereich des musikalischen Theaters vorgetrieben, wobei sich, bewußt oder unbewußt, wiederum ein Rückschlag ins Parodisti- sche einstellte — denn das Bacchantische ist nun einmal eine heikle Sache, Hans Werner Henze sei’s geklagt. Ob ein solcher, nicht immer ganz präziser Kraftakt dem eigentümlichen Esprit der attischen Komödie ganz gerecht wurde, mag offenbleiben.

Griechische Regisseure haben sogar die Hoffnung, unter gewissen Voraussetzungen die heimische Aufführungspraxis auf die deutschsprachige Bühne übertragen zu können: so soll Takts Muzenidis zu Beginn der Spielzeit 1967/68 am Burgtheater die „Helena“ des Euripides inszenieren. Es gibt aber in Griechenland selber auch eine Gegenreaktion: Begabte Nachwuchsregisseure, vielsprachig und mit westeuropäischen Produktionen bestens vertraut, gelten im eigenen Land nur etwas, wenn sie im Ausland waren; manche sind der Meinung, daß die neubegründete Aufführungstradition bereits etwas steril und artifiziell geworden sei — Versuche wie die von Gustav Rudolf Sellner, der mit der Burgtheater-Inszenierung des „König Ödipus“ in Athen gastierte, sind für sie aufregender und weiterfüh rend. Bei alledem darf man aber nicht vergessen, daß diese wechselseitige Faszination den gleichen Bezugspunkt hat: das antike Drama, eine der geheimnisvollsten Emanationen menschlichen Geistes.

Ein Ort der Tradition ist Epidau- ros. Die Festspiele von Epidauros werden ausschließlich vom Griechischen Nationaltheater bestritten, und einige Stücke werden nur hier aufgeführt: In diesem Jahr waren es „Die Schutz flehenden“ des Euripides, Sophokles’ „König Ödipus“ und Aischylos’ „Agamemnon“. Die „Agamemnon-Inszenierung von Alexis Minotis, dem künstlerischen Direktor des Nationaltheaters, gehört zu den besten Aufführungen des derzeitigen Repertoires. In Epidauros erfährt die Tragödie dm Wortsinn eine neue Beleuchtung: Man sieht, wie es Nacht wird über Mykenä. Indes: Das ist eine stimmungsfördernde Zutat unserer Zeit — in der Antike wurde bei Tageslicht gespielt. Der Stimmung geopfert wird sonst nichts von diesem harten Geschehen: ungebrochen vollzieht sich hier das Drama der Hybris.

Die Inszenierung ist von der Ratio bestimmt; kein falscher Realismus kommt auf, nur bei schwächeren Darstellern hier und da eine gefühlsbetontere Auslegung des Textes. Die Klytämnestra gibt die wohl bedeutendste griechische Darstellerin: Karina Paxinou. Ihr gehört letzten Endes der Abend, wenn sie auch mit ihrem psychologisch gliedernden Spiel den strengen Grundklang zeitweise aufspaltet. Sie stampft mit dem Fuß auf, zieht eigenhändig die auf- gebahrten Leichen Agamemnons und Kassandras nach vorn, bedroht den Chorführer mit dem Beil. Sie demonstriert totalen Menschenhaß. Katina Paxinou ist die große alte Dame des griechischen Theaters — nebenbei: als Dürrenmatts „Alte Dame“ ebenso intensiv und großartig.

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