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Dokumente

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Grado, die wohl schönste Laguneninsel der nördlichen Adria, verändert im Lauf der Jahre nur wenig ihr Gesicht; eine Vergrößerung der Stadt ist nur nach Norden zu möglich — und so wachsen in Nuovogrado zwar alljährlich neue Apartmenthäuser, Villen, Hotels und Gaststätten aus dem sumpfigen Boden, doch das Leben im berühmten Touristenbadeort bleibt immer das gleiche. Nach wie vor ist in den Monaten zwischen Mai und Oktober Deutsch die vorherrschende Sprache und nach wie vor sind alle Lokale und Restaurants von deutschen und österreichischen Gästen in dieser Zeit überfüllt.

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Grado, die wohl schönste Laguneninsel der nördlichen Adria, verändert im Lauf der Jahre nur wenig ihr Gesicht; eine Vergrößerung der Stadt ist nur nach Norden zu möglich — und so wachsen in Nuovogrado zwar alljährlich neue Apartmenthäuser, Villen, Hotels und Gaststätten aus dem sumpfigen Boden, doch das Leben im berühmten Touristenbadeort bleibt immer das gleiche. Nach wie vor ist in den Monaten zwischen Mai und Oktober Deutsch die vorherrschende Sprache und nach wie vor sind alle Lokale und Restaurants von deutschen und österreichischen Gästen in dieser Zeit überfüllt.

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Rein italienisch ging es aber bei der diesjährigen „Settimana interna-zionale del Cinema“ zu, bei der dritten Internationalen Filmwoche in Grado, die heuer unter dem Motto „La storia, la vita: il cinema“ stand; wir waren diesmal ryur wenige, ah den Fingern beider Hände abzählbare ausländische Journalisten, die als Gäste der in diesem Jahr vorbildlich organisierten Filmwoche an einem faszinierenden Ereignis teilnehmen konnten. Nach der Retrospektive über das frühe italienische Filmschaffen von 1909 bis 1920 vor zwei Jahren und einem Überblick über den stummen amerikanischen Western im Vorjahr war die heurige Veranstaltung dem Dokumentarfilm gewidmet, was Gelegenheit zu einer ebenso vorbildlich gegliederten wie sachkundig zusammengetragenen Veranstaltung bot, die in zwei Sektionen geteilt war: erstens in „Cine-documenti“, also Filmdokumente, wie Wochenschauen und reine Dokumentarfilme, und zweitens eine Reihe „Klassiker des internationalen Dokumentarfilmschaffens“.

Zu diesen zählte eine fast lückenlose Übersicht aller berühmten Werke der Filmgeschichte, angefangen von Flahertys „Nanuk, der Eskimo“ (1922) über die Meisterwerke Dsiga Wertows wie „Kino-Auge“ (Wertows edukative Wochenschauen). „Der sechste Teil der Welt“ (1926), „Der Mann mit der Filmkamera“ (1929), „Symphonie vom Don-bass“ (1930) und „Drei Lieder über Lenin“ (1934), Ruttmanns „Berlin — Symphonie einer Großstadt“ (1927), Esther Schubs „Der Fall der Romanow-Dynastie“ (1927), die beiden Do-kumentarspielfilme „Das Salz von Svanetien“ von Michail Kalatosow (1930) und „Die Erde dürstet“ von Juli Raisman (1930), Joris Ivens „Regen“ und „Neue Erde“ (beide 1933), Flahertys „Man of Aran“ (1934), bis zu den beiden Filmen Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ (1935) und die zweiteilige Dokumentation über die Olympischen Spiele in Berlin 1936 „Olympia — Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ (1938) als Abschluß fast aller „Klassiker“ dieses Genres — wohl allen Ci-ne^ten und Fachleuten geläufig und bekannt, doch noch nie in solcher Kompilation und Komplexität erfaßbar und erfaßt — bot nicht nur eine ideal zu nennende Studienmöglichkeit, sondern war darüber hinaus noch ein echtes und großes filmisches Vergnügen, faszinierende Begegnung mit der Filmgeschichte ... Besonders für uns Ausländer, aber nicht weniger auch für die italienischen Kollegen interessant und neuartig, darum von besonderer Bedeutung war die Sektion der „naiven Dokumente“, der frühen Wochenschauen und Filmdokumente, die mit den ersten Werken der Gebrüder Lumiere (1895) wie „Die Arbeiter verlassen die Fabrik“, „Der begossene Gärtner“ begannen, über Aktualitäten aus Italien (von denen besonders einige Dokumente zur österreichischen Geschichte wie „Kaiser Franz Joseph besichtigt die Fliegerschule in Wiener Neustadt“ und ähnliche für das österreichische Filmarchiv von Wichtigkeit und Bedeutung wären!), bis zu einer zwölf-stündigen, vom Instituto Nazionale Luce zusammengestellten Übersicht über italienische Wochenschauen von 1925 bis 1940 reichten. Besonders diese Dokumente, zum erstenmal der Öffentlichkeit präsentiert, ergaben einen einmaligen Überblick über die jüngere Weltgeschichte, festgehalten durch die Zeitlosigkeit des Mediums Film. Wir Jüngeren sahen zum erstenmal — ausführlich — die Entwicklung des italienischen Faschismus und konnten ein Bild von der Persönlichkeit Mussolinis gewinnen, dessen Pathos und Komödianten-tum zwar heute lächerlich wirkt, der aber als Zeiterscheinung durchaus verständlich zu deuten ist. Wie komisch klingen heute seine römischen Zitate wie „Navigare necesse est, vi-vere non est necesse“ — doch daß sie damals ihre Wirkung nicht verfehlten, beweisen die filmischen Dokumente eindeutig...

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Zwei grundlegende Erkenntnisse vermittelte die Filmwoche in Grado: den Unterschied zwischen der frühen Wochenschau, dem vorgestrigen Dokumentarfilm (dem „naiven Dokument“), und dem zusammengestellten Filmdokument — etwa den Werken Wertows, der Riefenstahl usw. — (dem „manipulierten Dokument“). Während die ersten Kameraleute noch objektiv Geschichte festhielten, also die Kamera eben am günstigsten Platz nach Beleuchtung, Sicht, Aufnahmemöglichkeit des Objektes aufstellten und dann eben „drehten, somit ein wahrheitsgetreues Geschichtsabbild lieferten, wird die historische Treue und Wahrhaftigkeit bei den später zusammengestellten (d. h. durch Aufnahmeortswahl, Schnitt und Montage nach Willen und Absicht des Herstellers subjektiv veränderten, also „manipulierten“) Filmdokumenten anzweifelbar; hier hört der Dokumentarfilm auf, objektiver Zeuge der Geschichte zu sein und wird zum willkürlichen Instrument einer Aktiv gesehenen Ge-schlchtsschilderung.

Als Musterbeispiel hierfür (was seinen Höhepunkt in der gegenwärtigen Fernsehberichterstattung findet) mag Leni Riefenstahls Film über den Nürnberger Reichsparteitag 1934, „Triumph des Willens“, gelten; wie hier — zweifellos in filmkünstlerisch (oder filmtech-nisch?) genialer Gestaltungsweise — ein pseudohistorisches Faktum „erarbeitet“ und geschaffen wurde, ist eine Meisterleistung manipulierter Dokumentaristik. Der Film in seiner unwahrscheinlichen Monstrosität einer Ideendarstellung hat damals voll und ganz seinen Zweck erfüllt, nämlich Deutschland, vor allem aber das Ausland darauf aufmerksam zu machen, daß — 1934 — das deutsche Volk wieder „erwacht“ war, daß es „geschlossen zu seinem Führer stand“ und daß mit dieser neuen Macht in Hinkunft gerechnet werden müsse. Selten wurde eine so eindeutige Warnung so einprägsam zu einem Bildwerk gestaltet! Doch erstaunlich, wenn man den Film heute, also unter dem Abstand veränderter Geschichte sieht, die andere Erkenntnis: wie konnte man damals übersehen, wie auch dieser Film gleich die drohende Zukunft mit all seinen fürchterlichen Schrecken vorwegnahm? Mehr als nur in einer

Warnung erkennt man heute im „Triumph des Willens“ die Drohung der größenwahnsinnigen Herrschafts- und Machtansprüche eines tödlichen Diktators: hinter den gigantischen Massenaufmärschen, in den dämonisch-nächtlichen, von düsteren Fackeln unheimlich aufgeleuchteten Todeskolonnen sind schon alle Schrecken des mörderischen Kz-Systems erkennbar... Und so gesehen verbirgt sich in dem Film auch eine erschreckende Zukunftsvision (was, sicher unabsichtlich und von der Gestalterin unbewußt, dennoch oder vielleicht erst recht ihre künstlerische Größe und Bedeutung erkennen läßt), die damals nicht erfaßt wurde...

So hat sich die Filmwoche Grado zu einer einmaligen filmischen Manifestation entwickelt, deren Bedeutung weit über den noch engen und wenig bekannten Rahmen hinausgeht und deren Besuch Pflichtgegenstand für alle Filmjournalisten, -kritiker und -fachleute werden sollte. Hier wird Filmgeschichte lebendig, hier dokumentiert sie wie in keinem anderen Festival die Voraussetzung für eine ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Medium der siebenten Kunst. Der Commune von Grado und ihrem rührigen Bürgermeister sei dafür öffentlich mit Nachdruck gedankt...

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