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Kirche und Volkspartei

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Sie rennen schon: alle Parteien hinter allen Wählern her, auch hinter den 20.000 des Jahrgangs 1960, die im ersten Quartal geboren sind. Damit ja keine Stimme verlorengeht. Keine Frage: Auch die Leimruten, die für kirchlich orientierte Österreicher bestimmt sind, werden fleißig schon beschmiert. Schade, daß vor Fronleichnam gewählt wird: Man könnte heuer viel Prominenz in Himmelnähe sehen!

Zum Auftakt der Schlacht um Wählergunst geriet eine 60 Seiten starke Broschüre auf die Schreibtische: „Kirche und ÖVP“ ihr Titel, die Katholische Sozialakademie Österreichs ihre Herausgeberin, ein Bischof und zwei Gelehrte die Verfasser.

Die Publikation will einen Beitrag zu dem notwendigen Gespräch über den Anspruch der Volkspartei leisten, eine im Kern christliche Partei zu sein. Und das sollte nach Univ.-Prof. Herwig Büchele, Professor für Sozialethik und Leiter der Sozialakademie, Ziel dieses Gespräches sein: „Sichtung der Probleme, Kritik ohne Anklage, Herausforderung jenseits des Zynismus, ohne schlechten Pazifismus, in aller Wahrhaftigkeit, die auch schmerzen kann.“

Zu solcher leistet schon der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl, kein Freund betulicher Umschreibungen, einen dankenswerten Beitrag bei der Schilderung des Unbehagens „in manchen Kreisen der ÖVP“: Der Eindruck sei entstanden, vor lauter Dialog mit anderen Parteien habe die Kirche die ÖVP vergessen; in der Tat seien persönliche Kontakte „eindeutig vernachlässigt“ worden; andererseits hätte eine „stark traditionsgebundene Schicht maßgeblicher ÖVP-Funktionäre“ die Wandlungen in der christlichen Soziallehre nur schwer verkraftet (ein Zitat von Peter Diem).

Büchele-Ergänzungen: ÖVP-Ka-tholiken hätten das Gefühl, unbe-dankt für die Kirche die Kastanien aus dem Feuer holen zu dürfen, und SPÖ- oder FPÖ-Katholiken fühlten sich von der offiziellen Kirche nicht ernstgenommen. Das Problem bringe die Amtsträger in ein „fast unauflösbares Dilemma“.

Die Natur des Dilemmas: Die Kirche muß sich mit allen Kräften solidarisieren, die für Menschenwürde und Toleranz, Minderheitenschutz, Mitbestimmung, Mitverantwortung usw. eintreten - aber Abstandsgleichheit zu allen Parteien (Äquidi-stanz) bedingt das nicht. Wann also darf sich eine Partei auf ihren christlichen Wesenskern berufen?

Weihbischof Krätzl: wenn sie die kirchliche Soziallehre ernstnimmt. Für die ÖVP bejaht Univ.-Prof. Hans Zwiefelhofer SJ, Professor für Gesellschafts- und Entwicklungspolitik in München, an Hand einer Programmanalyse diese Frage ohne Vorbehalt. Freilich: Die katholische Soziallehre als Bestandteil der Lehre vom Menschen „gibt keine unmittelbare Antwort auf aktuelle politische Fragen, sie stellt keinen Dritten Weg dar, sie entwirft kein fertiges Grund-

satzprogramm. Wohl aber gibt sie Leitideen der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ...“

Zu einer „Vervollkommnung des Menschen und der Gesellschaft“ als „immer neu gestellte Aufgabe“ bekennt sich auch das Salzburger Programm der ÖVP. Gerade auf dieses „Und“ kommt es Zwiefelhofer an, und er läßt (wie Büchele) keinen Zweifel offen, was er damit meint: daß „politische und wirtschaftliche Strukturen schrittweise und mit Beteiligung aller verändert werden müssen“. Eben darin und nicht nur im Bewahren liege „der Auftrag und die Chance einer christdemokratischen Partei“.

Der Jesuit aus München formuliert ein paar konkrete Fragen: Meinen es christdemokratische Parteien wirklich immer ernst mit dem Grundwert Solidarität, der mehr verlange als

Hilfe für die Schwachen, der vielmehr „unaufhebbare Zuordnung und Abhängigkeit von Einzelmensch und Gemeinschaft“ bedeute?

Und: Wenn das Leistungsprinzip seinen Sinn behalten soll, müßte mehr an der Sicherung seiner Voraussetzungen gearbeitet werden -nicht nur an einmaliger, sondern an stets wiederholter Herstellung von Chancengleichheit statt „Verteilung der Lebenschancen zu Lasten der Schwächeren, z. B. zu Lasten' der Nichtorganisierten, der Nichtprodu-zierenden“.

Soziale Marktwirtschaft sei prei-senswert: „Aber ich frage mich, ob diese Idee die Menschen glücklicher gemacht hat?“ Auch sei Solidarität unteilbar: nicht nur Hilfs-, sondern Handels- und Strukturpolitik zugunsten der Entwicklungsländer seien gefordert. Und auch eine geistige Auseinandersetzung mit dem Thema Rüstung: „Bei aller Notwendigkeit einer militärischen Sicherheit sollten wir das weite Feld der sozialen Verteidigung nicht vergessen.“

Schließlich eine theoretische Pro-blematisierung des ÖVP-Programm-satzes „Der individuelle Freiheitsraum findet seine Grenzen an der Freiheit anderer“: Zwiefelhofer mutmaßt, für diese Formulierung habe Leibniz Pate gestanden. In Wirklichkeit sei „der andere“ nicht Schranke, sondern „interne Bedingung der Möglichkeit meiner Freiheit“.

So sind denn mit rhetorischen und programmatischen Erklärungen nicht alle Fragen abgetan. Eine formuliert Weihbischof Krätzl noch recht konkret: „Wie wird es mit der von der ÖVP groß angekündigten Ideologiedebatte (Grundwertediskussion) weitergehen? Warum hat sie nicht weiteren Anklang gefunden? Weil man sich über die Grundwerte nicht einig ist oder weil man für die Diskussion nicht genügend vorbereitet war oder weil einfach eine Diskussion über Grundwerte heute nicht wahlwirksam ist?“

Jenen in der ÖVP, die sich „ohne Rücksicht auf Opportunität für Grundwerte einsetzen“, zollt der Bischof „besondere Anerkennung“. Andererseits findet Professor Büchele, daß nicht nur Amtsträger der Kirche keine Parteipolitik betreiben sollten, sondern daß umgekehrt auch die Amtsträger „auf eine positiv-konstruktive Kritik u. a. auch der Politiker angewiesen sind“.

Wer will, wird in der Publikation Läuse finden: weil manche Formulierung vor lauter Grundsätzlichkeit hohl (oder gar auch wieder grundsatzlos) und manche vor lauter Wissenschaftlichkeit blutleer (oder gar inhaltslos) klingt. Aber abtun als irrelevantes Theoretisieren kann man das Büchele-Büchl sicher nicht.

Bei etwas gründlicherer Befassung mit der Thematik hätte sich einige Aufregung in ÖVP-Zeitungen über einen Passus in der Silvesterpredigt des Kardinals jedenfalls vermeiden lassen.

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