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Meditation über den Baum

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Sturm fährt durch die Wälder. Das Kunstwerk Baum, dieses ästhetische Phänomen, zugleich eine phantastische biologischchemisch-physikalische Anstalt, wehrt sich in geschwächter Position gegen den Feind. Junge und Alte fallen dem scharfen Herbstwind zum Opfer, mehr noch aber fallen unter dem Zugriff der Menschen, die kein Erbarmen kennen.

Der Anblick einer Eiche auf einsamer Flur, wie sie mit strotzenden Wurzeln den Regen aus der duftenden Erde zieht, einer Windmühle gleich betrieben von der wärmenden Sonne, ist großartig. Feinste Kapillaren heben den mineralischen Saft im Innern des Baumes empor, und die Blätter produzieren, was dem Menschen zum Leben unerläßlich ist; sie atmen aus, was wir einatmen. Aber dieses großartige Schöpfungswerk hat fast nur Feinde.

Wälder und Grünflächen sind die Haut der Erde. Wenn die Epidermis geschädigt ist, leidet der Gesamtorganismus, je nach Ausbreitung des Übels bis zum tödlichen Ende. Die Frage überschreitet demnach alle Grenzen.

Schneidet's nicht jeden ins Herz, wenn beim Fällen eines Baumes der Augenblick seines Sturzes kommt: wie er, in der Seele getroffen, aufschreit, dann ergeben seinen Wipfel neigt, der lang vorher schon innig gezittert hatte? Jetzt schnitt der Wipfel wie ein Schwert durch die Luft, und der schwere Körper erschütterte im Sturz die Erde. Es war ein Lebewesen, das da fiel; nur von seinen Gewohnheiten wußten wir wenig oder nichts. Baum ist uns Baum. Hat sich einer von uns auch nur einmal Gedanken darüber gemacht, wie es kommt, daß Laubwälder ihren Schmuck im Herbst abstreifen, noch ehe der Frost sie traf?

Eine halbhohe Birke verbraucht 60 Liter Wasser im Tag. Ihr Wurzelwerk ist bis in seine haardünnen Verzweigungen hinein der Anfang einer komplizierten Pumpe, die durch die Naturgesetze der Verdunstung enorme Mengen in die Höhe schafft und wieder ausstößt, im lautlosen Steigen und Schwelen. Von einer mütterlichen Buche werden 120 Liter täglich verbraucht. Ganze Flüsse sind es also, die ein weit sich erstreckender Wald Tag für Tag durch seine Adern saugt.Wenn aber der Winter kommt, kann der hart werdende Boden nicht mehr so viel Wasser abgeben, dann heißt es rechtzeitig den Konsum beschränken, indem die Blätter mit ihrer Verdunstungsfläche abgeworfen werden. Eine Art Winterschlaf beginnt.

Ehe die Blätter verabschiedet werden, müssen sie ihre wertvollen Stoffe, Stärke und Zucker, abgeben. Ihr Farbstoff zerfällt in seine braunen, roten und gelben Bestandteile, der herbstliche Wald flammt auf. Nur die Nadelbäume brauchen den Riemen nicht enger zu schnallen, denn ihre Verdunstungsflächen sind kleiner - alles in allem 400 Quadratmeter. Breitet man die Nadeln einer gutrassigen Fichte nebeneinander auf dem Boden aus, ergibt das einen ganz hübschen Teppich von 40 mal 40 Metern.

Auch in der Zahl der Blätter oder Nadeln liegt ein wenig beachtetes Phänomen. Englische Forschungen haben ergeben, daß die Zahl der Nadeln pro Fichte zwischen 30.000 und 325.000 schwankt. Hat unser Blick jemals zwischen nadelarmen und nadelreichen Fichten bewußt unterschieden? Auch Jahresringe haben ihr eigenes Gesicht. Sie sind wie die Linien auf unseren Fingerspitzen unverwechselbar bei jedem einzelnen Baumindividuum. Man könnte sie als Steckbrief benützen. So viel Phantasie wendet die Natur auf — ohne sichtbaren Zweck.

Und dabei folgt sie festen Gesetzen: Der Fachmann kann von einem Stück Rundholz sagen, in welchem Jahre es gepflanzt worden ist. Nicht, indem er die Jahresringe zählt — denn wer weiß, wie viele Jahre das Rundholz schon gelagert gewesen war. Nein, es gibt einen einfacheren, aber wunderbaren Weg. Jedes Jahr hat in seinem Jahresring einen eigenen Charakter — über die Jahrhunderte hin.

Bescheiden geworden, mag man an die Schamanen denken, die mit Bäumen Gespräche führen, und könnte am Ende selber versuchen, das zu tun. Man wird staunen, mit welcher Gelassenheit von den wehenden Wipfeln die Antwort kommt. Wie das harte Holz unversehens voll Leben ist. Spürt nicht jeder von uns, der einen Wald durchschreitet, das ununterbrochene sanfte Geflüster?

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