Corona-Vereinzelung - © Foto: iStock / imaginima

Corona-Weihnachten: Fürchtet euch nicht? Vergebt einander!

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Was die schockstarren Hirten der Weihnachtsgeschichte mit den Pandemiestrapazierten der Gegenwart verbindet: Gedanken zur Handlungsfähigkeit in unsicherer Zeit.

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Was die schockstarren Hirten der Weihnachtsgeschichte mit den Pandemiestrapazierten der Gegenwart verbindet: Gedanken zur Handlungsfähigkeit in unsicherer Zeit.

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Aufgeschreckt aus der Routine, überwältigt von einem nie dagewesenen Ereignis, unfähig, klare Umrisse zu erkennen – selten war die Selbstverortung im biblischen Krippengeschehen so naheliegend wie in diesem Jahr, in dem die Wendung „auf Sicht fahren“ die Liste der politischen Metaphern anführt. Es sind vor allem die Hirten in ihrer nächtlichen Orientierungslosigkeit, die sich dem pandemiestrapazierten Gemüt zur Identifikation anbieten. Und so gewinnt eine Frage an Interesse, die zu anderen Zeiten womöglich gar nicht so relevant erschien: Wie gelingt es eigentlich, dass sich die Hirten aus der Schockstarre lösen und wieder handlungsfähig werden?

Eine Rolle spielt dabei sicherlich der tröstliche Satz: „Fürchtet euch nicht!“ Aber entscheidend ist, dass es über diesen Satz hinaus einen Anhaltspunkt gibt, wie sich das analogielose Geschehen der Geburt dieses Kindes mit vertrauten Vorstellungen in Verbindung bringen lassen könnte. Indem der Engel nämlich den Neugeborenen als den Christus (auf Hebräisch: den Messias) ausweist, ruft er inmitten der unvertrauten Situation einen vertrauten Begriff auf. Auf das gleißende Licht können sich die Hirten keinen Reim machen, zum Stichwort Messias hingegen fällt ihnen allerhand ein. Rettung, Erlösung, Gerechtigkeit: Mit der Assoziation von Bedeutungen kehrt sogleich auch ein Handlungsimpuls zurück, der sie schließlich zur Krippe aufbrechen lässt.

Leben in Undurchsichtigkeit

Häufig ist davon die Rede, die gegenwärtige Pandemie rücke den Menschen ihre Zerbrechlichkeit ins Bewusstsein. Aber was macht diese Zerbrechlichkeit eigentlich bei näherem Hinsehen aus? Ausgehend von der Hirtenszene lässt sich sagen: Als zerbrechlich erlebt sich der Mensch so lange, wie ihm seine Situation undurchsichtig ist. Ein Gefühl seiner Stabilität erlangt er dann zurück, wenn die Wirklichkeit Ansätze klarer Konturen erkennen lässt. Ein probates Mittel, um solche Konturen herauszuarbeiten, sind ebenso allgemeine wie vertraute Begriffe, mit deren Hilfe sich die Realität immerhin versuchsweise erschließen lässt.

Sarah Spiekermann-Hoff hat vor zwei Wochen in dieser Zeitung angeregt, den Corona-Winter als einen „Wahrheitsmoment“ im Sinne Alain Badious aufzufassen. Die Pandemie ist in diesem Sinne ein Ereignis, das die Menschen nicht etwa auf die eine oder andere neue Einsicht bringt, sondern die Weltsicht als Ganze mit einem neuen Vorzeichen versieht. Die Hirtenszene deutet an, wie sich derartige Wahrheitsmomente aus der Froschperspektive anfühlen: Vor der grundlegend neuen Sicht auf die Wirklichkeit steht eine Phase, in der sich schlichtweg gar nichts sehen lässt.

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