Aus Gewohnheit rauben, morden

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Auf der Bühne des Volkstheaters steht so etwas wie eine Puppenhaus-Version des Bates-Motels aus Hitchcocks "Psycho". Das graue Häuschen befindet sich auf einer schrägen Anhöhe. Die Welt ist in eine gewaltige Schieflage geraten. Eine Nebelmaschine erzeugt zusätzlich gespenstische Atmosphäre, durch das diesige Licht schlurft ein alter Knecht, dessen Gesicht zur Maske erstarrt ist. Die Maske spielt die Hauptrolle in Nikolaus Habjans Inszenierung von Albert Camus' "Das Missverständnis". Die kleine Familie, in die der Krieg längst eingezogen ist, hat Habjan als Puppen gestaltet. Hinter den weißen, fratzenhaften Masken stehen Menschen, die Puppenspieler. Alles Mitfühlende wurde von der kalten Gier des Zweiten Weltkriegs verdrängt. So erzählt es Habjan auf anschauliche Weise.

Ein Stück mit christlicher Botschaft?

Camus hat diese "antike Schicksalstragödie" 1943 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges geschrieben. Gleichgültigkeit, Kälte und die enorme Vernichtungskraft innerhalb Europas sind die Themen, die ihn beschäftigten.

"Das Missverständnis" erzählt vom Exilanten Jan, der mit seiner Frau in die Heimat zurückkommt. Er kehrt im Gasthof seiner Mutter und Schwester ein, ohne sich zu erkennen zu geben. Er hofft so, einen unverfälschten Blick auf das Leben der zurückgelassenen Familie werfen zu können und deren Bedürfnisse und Ängste kennenzulernen. Doch passiert ein gewaltiges Missverständnis: Weder Mutter noch Schwester erkennen ihn, und so wird er, zu dem sie scheinbar keinerlei Vertrautheit empfinden, zu ihrem Opfer. Die beiden Frauen bestreiten nämlich ihre Existenz mit Raubmord an Alleinreisenden. Da kommt ihnen Jan gerade recht. Denn hat man einmal gemordet, wird es zur Routine, und "was man nicht kennt, ist leichter zu töten." Den beiden in der NS-Diktatur zurückgebliebenen Frauen ist das Verbrechen zur Gewohnheit geworden, moralische Skrupel haben sie längst abgelegt.

Erst nachdem die beiden Frauen Jan vergiftet haben, müssen sie feststellen, dass es sich um Sohn und Bruder handelte. Steckt hier eine christliche Botschaft im Stück des Existentialisten Camus? Dass jeder unser Bruder, unser Sohn sein könnte?

Der künstlerische Ansatz von Habjan zeigt deutlich, was eine Gesellschaft mit dem Individuum machen kann: Hinter den ausdrucksstarken Masken stehen Menschen mit offenen Gesichtern, feiner Mimik und echten Gefühlen. Das System hat den Menschen von sich und seinen Nächsten entfremdet, bei Habjan buchstäblich entzweit. Sein ästhetischer Zugang überzeugt, in der Ausführung hätten Kürzungen gut getan.

Das Missverständnis

3., 4., 7., 24. Nov.

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