Beschimpfung statt Staunen

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Thema: Schöpfungsglaube

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Thema: Schöpfungsglaube

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Dreihundert Jahre vor Charles Darwin wurde Johannes Calvin geboren. Ich lese seine „Institutio Christianae Religionis“ und finde schöne Sätze: „Es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären! Man kann dieses gewaltige, wundervolle Gebäude, das ringsum daliegt, gar nicht mit einem Blick erschauen, ohne unter der Gewalt dieses unermesslichen Glanzes zusammenzusinken.“ (Institutio I,5,1)

Nun sinkt der streitbare Reformator aber keineswegs zusammen. Im Gegenteil: Er poltert los, gegen Papisten und Manichäer, Juden und Philosophen … Ein „Schweinestall“ (I,5,5) sei das alles, ein „Schlamm von Irrtümern“ (I,5,12). Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein. Um meinem Vorvater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, versuche ich mir vorzustellen, wie das sechzehnte Jahrhundert sich angefühlt hat. Es will mir nicht recht gelingen. Die Frage bleibt: Wie ist es möglich, dass überwältigtes Staunen angesichts geschenkter Fülle so unmittelbar übergeht in Beschimpfungen diverser Gegner?

Vielleicht könnten wir heute, da wir die Geburtstage der großen Männer begehen, auch einmal darüber nachdenken, dass wir da eigentlich Säuglinge feiern: schrumpelige Wesen, die aus dem Leib einer anderen in die Welt eingetreten sind. Wir könnten, verstünden wir die Geburtstage im Wortsinn, Charles kaum von Johannes unterscheiden. Sind wir denn nicht alle abhängig von dem Drumherum, das der eine so, der andere anders nennt? Wer von uns kann auch nur fünf Minuten ohne Luft überleben, oder eine Woche ohne Wasser? Auch wenn wir noch so dicke Bücher über Schöpfung oder Evolution schreiben? Auch wenn wir noch so scharfsinnig Andersgläubige zu widerlegen gelernt haben?

* Die Autorin ist Germanistin und evangelische Theologin. Sie lebt als freie Autorin in der Ostschweiz

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