Bisher Verborgenes kommt ans Licht

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Wer vor einem Jahr durch die Wiener Kärntner Straße gegangen ist, konnte im Boden die Namen großer Musiker lesen. Heute sind stattdessen Rillen zu sehen, Hilfen für Blinde. Rampen an vielen Gebäuden und Lifte zeigen, dass körperlich Behinderte wahrgenommen werden.

In den Sechzigerjahren waren geistig Behinderte im öffentlichen Leben nicht zu finden. Heute gibt es sie. In den Museen alter Kunst sind Kunstwerke von Frauen eine sehr seltene Ausnahme. Die Museen zeitgenössischer Kunst sind ohne die Kunst von Frauen gar nicht mehr vorstellbar.

Vor vierzig Jahren hatten als Kinder missbrauchte Menschen keine Stimme, kein Gesicht. Heute geben sie sich zu erkennen, werden sie wahrgenommen.

Die Opfer bekommen ein Gesicht

Vor unseren Augen und Ohren geschieht Unerhörtes, Ungeheures. Bisher Verborgenes, Unterdrücktes, Verdrängtes kommt ans Licht. Aus nebligem Raum tauchen ganz neue Landschaften auf. Ein riesiger Zug von Menschen kommt entgegen. Auch Tiere, auch die Umwelt: Was übergangen, nicht beachtet wurde, es bekommt Gestalt. Die Übersehenen, Überhörten, die Opfer bekommen ein Gesicht, eine Stimme.

In der Kunst des 20. Jahrhunderts ist dieser Vorgang schon seit Langem zu beobachten. Künstlerinnen und Künstler machen auf etwas Neues aufmerksam. Das Feld reicht von der am Beginn des Jahrhunderts entdeckten „Kunst der Geisteskranken“ bis zu den konzeptuellen Arbeiten gegenwärtiger Künstlerinnen und Künstler.

Die Kirche glaubt an einen Gott, der Mensch geworden ist, der selber Opfer geworden ist. Sie bekennt, dass dieser Gott in den Armen, den Opfern, den Übersehenen und Verdrängten zu erkennen sei. Heute hat sie große Möglichkeiten, mit diesem Bekenntnis Ernst zu machen. Tut sie es, wird sie leben.

* Der Autor ist Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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