Charme Und Harm

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SUBVERSIV UND KÖSTLICH ZU LESEN: DAS KINDISCHE WAR FÜR DANIIL CHARMS PROGRAMM.

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SUBVERSIV UND KÖSTLICH ZU LESEN: DAS KINDISCHE WAR FÜR DANIIL CHARMS PROGRAMM.

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Im Wiener Akademietheater kann man sie in Andrea Breths lustvoll präziser Inszenierung ab Oktober wieder sehen, die dramatischen "Zwischenfälle" von Daniil Charms (1905-1942). In einer Szene brillieren Elisabeth Orth und Udo Samel als unmanierliche Suppenesser -in Charms' Original sind es zwei Männer: "Du denkst wohl, nur weil du ein Prinz bist, darf man dich nicht mit Suppe vollspritzen?""Genau das denke ich!""Und ich denke das Gegenteil."

Aufstand gegen den Ernst

Charms, der gegen die Konventionen des Theaters genauso verstieß wie gegen die der Sowjetkultur, hat in seine absurden Stücke einiges von der Gewalttätigkeit seiner Zeit

verpackt: Menschen ohrfeigen und treten einander, da werden Gliedmaßen ausgerissen und Hinterteile gebissen, ohne freilich auf die Minimalanforderungen einer höflichen Unterhaltung zu verzichten. Das Kindische ist Programm, es ist ein Aufstand gegen den (politischen) Ernst: "Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung", schrieb Charms in sein Tagebuch, knapp ehe Stalins Polizei ihn verhaftete. Während der Blockade Leningrads verhungerte er im Gefängnisspital. Daniil Charms Theaterstücke entfalten ihre ganze subversive Wirkung auf der Bühne, aber sie sind auch köstlich zu lesen: In der neuen vierbändigen Ausgabe hat Herausgeber Alexander Nitzberg sie neu und bewusst unakademisch übersetzt. Und er hat sich auch der bisher im Westen kaum bekannten Gedichte des Avantgarde-Klassikers angenommen, mit Delikatesse und einer stupenden Reimfertigkeit. Hier regiert "der Fürst der Schönheit ohne Sinn /der Gott der Höh die längst dahin". Entdecken kann man einen russischen Morgenstern, einen Dichter mit ebensoviel Mut wie Mutwillen. Ging es nach Charms, dann sollten

Gedichte von solchem Stoff sein, dass, "wenn man sie gegen ein Fenster schmeißt, das Glas springt". Solche Wirkung trauten die Stalinisten jedenfalls einem seiner Kindergedichte zu, in dem ein Mann in den Wald geht und darin auf Nimmerwiedersehen verschwindet: Es trug Charms 1937 Publikationsverbot ein.

Daniil Charms: Werke Hg. von Alexander Nitzberg und Vladimir Glozer. Bd. 2 Sieben Zehntel eines Kopfs. Gedichte. Bd. 3 Wir hauen die Natur entzwei. Theaterstücke. Übersetzt von Alexander Nitzberg. Galiani 2010 bzw. 2011,313 bzw. 343 S., geb., je €25,70

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