Thema: Einehe/Vielehe
Haben Sie das schon mal erlebt? Man sitzt mit bangen Vorahnungen beim Nachlassgericht: Kommen zur Testamentseröffnung nur die bekannten Familienmitglieder oder etwa auch welche, von denen man bislang keine Ahnung hatte? Keine unrealistische Situation. Im Alltag eines Rabbiners spielt es heute eine Rolle, die frühere Frau eines Gemeindemitglieds von der aktuellen zu unterscheiden oder zu wissen, in welchen Beziehungsnetzen jemand lebt. Serielle Monogamie von Menschen ist fast schon normal geworden; Parallelverhältnisse sind keineswegs nur ein Sujet der Belletristik. Ina Praetorius hat es auf den Punkt gebracht: „Es kommt nicht darauf an, mit wie vielen Leuten ich zusammenlebe, sondern ob ich ihnen ihre Freiheit lasse, ob ich ihre Würde, ihre Einzigartigkeit achte.“
Hier hat das jüdische Eherecht durch die Jahrtausende nicht ein einziges Beziehungsmodell zum erbarmungslosen Maßstab erhoben. Dieses Regelwerk stellt die Qualität von Beziehungen ins Zentrum, bewertet diese rechtlich und bringt Werte und Versorgungsansprüche je neu zur Anwendung. Mehrere Frauen haben Rechte gegenüber dem Ehemann – sei er seriell oder parallel, auch das Konkubinat begründet Ansprüche und seit den 1970er-Jahren haben weite Teile des Judentums gleichgeschlechtlichen Beziehungen den Respekt des Rechts verschafft. Sicher, dabei gab es orthodoxe und unorthodoxe Herangehensweisen. Würde, Sorgfalt, Freiheit waren aber immer wichtige Leitgedanken.
Manch „alte Zöpfe“ sind abgeschnitten worden, andere haben wir uns noch aufgehoben. Trotzdem wird es immer wieder Situationen geben, die uns herausfordern, etwa wenn es die Ehefrau ist, die sich scheiden lässt, weil ihr ein Jüngerer besser gefällt. Das jüdische Recht macht daraus Situationen ethischer Bewährung. Oft genug gelingt es, manchmal dauert es.
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg/Potsdam
