Das Virtuelle - und das Reale am Rand

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In meiner Kirche, der Jesuitenkirche in Wien 1, lassen sich die Anfänge einer virtuellen Welt bewundern. Andrea Pozzo hat hier vor 300 Jahren eine wunderbare Scheinarchitektur geschaffen. Doch reichen die Wurzeln eines Denkens in Modellen und künstlichen Welten viel weiter zurück. Mehr als 200 Jahre vor Andrea Pozzo war Paolo Uccello vom Zauber zentralperspektivischer Konstruktionen so sehr gefangen, dass er seine ihn im Bett erwartende Frau völlig vergaß. Der konkrete Mensch ist bei der Verwandlung der Welt ins Virtuelle immer zu kurz gekommen.

Wenn ich durch die Wiener Innenstadt gehe und in die Schaufenster schau’, bin ich von Schönheit umgeben. Die Menschen auf der Straße eifern diesen künstlichen Welten nach. Sie machen freiwillig mit bei der Verwandlung des Körpers in eine Fiktion. Wunschbilder beherrschen die Medien, und der straffe Hintern einer 27-Jährigen drängt für kurze Zeit die Not der Welt in den Hintergrund.

Am Rand des Virtuellen aber sammelt sich das Reale in Gestalt von Abfall und hinfällig gewordenen, verwundeten Körpern. Die virtuelle Welt wird immer mehr beschleunigt und schleudert immer rascher Dinge und Lebewesen an den Rand. Dort liegen sie nun, verbraucht und verwundet, aber real.

Ein wesentliches Kriterium für Qualität in der Kunst und in der Religion ist heute, ob diese Realität am Rand wahrgenommen wird. Wenn beide es nicht schaffen, hier Schätze zu entdecken, taugen sie nichts. Wenn das Begehren nur auf das Wünschenswerte einer künstlichen Welt gerichtet ist, taugt es wenig. Kunst und Religion richten das Begehren auf etwas, das im nicht Wünschenswerten des Realen zu entdecken ist. Der Müll kann zur Kostbarkeit, die Wunde zum Ursprung der Heilung werden.

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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