Der Philosoph der Vermittlung

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In seinem Denken bemühte er sich um ein Gleichgewicht zwischen Tradition und Erneuerung. Ethik verstand er als etwas Sinnlich-Konkretes. Zum 100. Geburtstag von Paul Ricœur.

"Kreativ zu sein, heißt, sich mit vorhandenen Regelsystemen auseinanderzusetzen, sei es, um sich leiten zu lassen, sei es, um sie zu übertreten.“ Diese Bemerkung des französischen Philosophen Paul Ricœur ist charakteristisch für sein Denken, das sich um ein Gleichgewicht zwischen Tradition und Erneuerung bemüht. Er geht davon aus, dass sich Neues, Kreatives immer schon auf Tradiertes, Überkommenes bezieht, um "einen Funken zu erzeugen, der bei dem Zusammenprall von verschiedenen Traditionen entstehen soll“. Dabei bezieht er in seinen umfangreichen Büchern unterschiedliche Theorien wie Philosophie, Theologie, Geschichtswissenschaft, Psychoanalyse und Linguistik mit ein.

Wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts hat Ricœur bei seinem Projekt einer Vermittlung von Traditionen und Innovationen eine äußerst komplexe Theorienlandschaft geschaffen, in der selbst Fachphilosophen Schwierigkeiten haben sich zurechtzufinden. Ricœurs Hang zu facettenreichen und detaillierten Untersuchungen hat lange Zeit verhindert, dass der Rang seiner Philosophie anerkannt wurde. Er zählt heute neben Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre zu den bedeutendsten Denkern Frankreichs, die zwischen Hermeneutik, Phänomenologie und Marxismus oszillieren.

Von Frankreich in die USA

Geboren wurde Ricœur am 27. Februar 1913 in Valence. Er wuchs als Vollwaise bei den Großeltern auf und studierte später Philosophie in Rennes und an der Sorbonne, wo er die Phänomenologie Edmund Husserls kennenlernte. Nach Jahren der Kriegsgefangenschaft in Deutschland lehrte Ricœur in Straßburg und erhielt 1957 den Lehrstuhl für Allgemeine Philosophie an der Sorbonne. 1966 erklärte er sich bereit, eine Professur an der Reformuniversität Nanterre anzunehmen, die damals das Sammelbecken vieler linksradikaler Studenten war. Dieses Engagement endete mit einem Eklat: Eine Gruppe maoistischer Studenten entleerte einen Kübel Müll über den schmächtigen Gelehrten, was ihn unter anderem dazu bewog, an die University of Chicago zu wechseln, wo er bis zu seiner Emeritierung 1990 lehrte. Neben seiner Lehrtätigkeit entstand ein kaum überschaubares philosophisches Werk mit Werken wie "Die Interpretation. Ein Versuch über Freud“, "Die Fehlbarkeit des Menschen“, "Hermeneutik und Psychoanalyse“, der mehrbändigen Studie "Zeit und Erzählung“, "Die lebendige Metapher“ oder "Das Selbst als ein Anderer“. Kurz vor Ricœurs Tod am 20. Mai 2005 erschien noch das Buch "Wege der Anerkennung“.

Lebenswelt gegen Rationalismus

Den Ausgangspunkt des philosophischen Denkens von Ricœur bildete die Phänomenologie Edmund Husserls. In seiner Spätphilosophie befasste sich Husserl speziell mit der Lebenswelt, also mit jener Welt, die vor jeglicher philosophischer Reflexion liegt. Gemeint ist damit eine gelebte Kultur mit all ihren Facetten, wie sie sich in der kulturellen Tradition, in der religiösen Erfahrung, in mythologischen Erzählungen oder im Alltagsleben manifestieren. Dieser Ansatz unterscheidet sich wesentlich von einem rationalistischen Entwurf, wie ihn etwa René Descartes vertrat, den Ricœur vehement kritisiert hatte. Er sah in der cartesianischen Konzeption des "cogito ergo sum“ ("ich denke, also bin ich“) einen fatalen Missgriff, weil sie die Abhängigkeit des Menschen von seiner leiblichen Verankerung, von der Einbindung in historische und politische Kontexte und die Bedeutung der Sprache ignoriere. Die Selbstgewissheit des bewussten Denkens erfuhr auch eine radikale Subversion durch Sigmund Freud, der auf die Macht des Unbewussten hinwies und damit dazu beitrug, dass die Illusion einer Omnipotenz des Bewussten durchbrochen wurde.

Ricœur verließ das enge Gebiet der rationalistischen Philosophie und wandte sich vornehmlich der Sprache und der Linguistik zu. Hier war für ihn der Brennpunkt, wie es das Schlagwort vom "linguistic turn“ bereits andeutet, in dem die verschiedenen Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts wie die Philosophie Ludwig Wittgensteins, die Analytische Philosophie oder die Studien von Martin Heidegger zusammenlaufen. In Ricœurs Sprach-Hermeneutik - also seiner Theorie des Verstehens und der Verständigung - taucht sein Grundgedanke wieder auf; nämlich das komplexe Verhältnis zwischen Regeln und Innovation zu klären. Sprache ist für Ricœur ein Geflecht von syntaktischen und phonetischen Regelsystemen, die als Basis der Kommunikation angesehen werden können. Obwohl diese Regelsysteme wissenschaftliche Exaktheit beanspruchen, ist es nicht möglich, die menschliche Kommunikation als bloßen Austausch von Regelsystemen zu betrachten. Vielmehr werden ständig Sätze erzeugt, die niemals vorhergesagt werden können und in denen sich ständig Innovationen ereignen. Den privilegierten Ort der sprachlichen Innovation stellt dann die Dichtung dar, wie Ricœur in seinem Buch "Die lebendige Metapher“ gezeigt hat. Die Aufgabe des Philosophen besteht aber nicht nur darin, die "offene Dialektik“ zwischen Regelsystemen und poetischer Innovation innerhalb der Sprache zu beschreiben. Angesichts eines Wertevakuums, das sich in den westlichen postmodernen Gesellschaften epidemisch ausbreitet, kommt der Ethik wieder eine verstärkte Bedeutung zu, die sich auch im philosophischen Werk Ricœurs manifestiert. Hier zeigt sich erneut seine Abneigung gegen jegliche Philosophie, die nur das Denken des Einzelnen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rückt. Vielmehr betont er die Bedeutung der Verantwortung, die jeder Mensch für andere hat.

"Man muss auch lieben können“

In seinen Untersuchungen zur Ethik wandte sich Ricœur vor allem gegen den "Kategorischen Imperativ“. Kants Aufforderung "Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ ist für Ricœur ein demagogischer Formalismus, der den konkreten, empirischen Lebensbereich des Menschen ausklammert. Dieser Formalismus berücksichtige nicht die einzelne Motivation einer Handlung, sondern postuliere ein objektives Gesetz der Vernunft, das die subjektive Beschaffenheit des menschlichen Handelns regeln soll. Gegen dieses abstrakte Prinzip erhob Ricœur den Vorwurf der unnachsichtigen Härte, die das allgemeine Gesetz zum Fetisch mache.

Dagegen setzte Ricœur eine Ethik, die Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Emotionen, das Streben nach Glück und die Sorge um sich und den Anderen mit einbezieht. Ricœur spricht von einer "Ethik des Hörens“. Gehört werden soll auf alles, was man allgemein "das Gewissen“ nennt. Die Stimme des Gewissens durchbricht den Panzer des Ich und die monomane Ausrichtung auf sich selbst. Erst das Gewissen eröffnet die "innerste Möglichkeit, das Gegenüber wahrzunehmen“. Ricœur geht noch einen Schritt weiter und entfernt sich noch mehr von der Moralphilosophie, wie sie Kant vertreten hat. "Ich glaube nicht, dass Philosophie alles im Leben ist“ - so das Fazit von Ricœur - "man muss auch lieben können.“

Literaturhinweis

Jens Mattern, Paul Ricœur zur Einführung

Junius 2010, 248 Seiten, kart., € 13,50

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