"Die Menschen könnten frei sein"

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Die Schattenseiten und Miseren des Landlebens in Brandenburg zeigt der deutsche Drehbuchautor und Regisseur Christian Petzold in seinem neuen Film "Jerichow".

Die Furche: In Ihrem Film ist Jericho(w) alles andere als eine grüne Oase …

Christian Petzold: … sondern eine trostlose Gegend im Brandenburgischen, in der Gegend Prignitz. Als wir uns beim Dreh von "Yella" dort aufhielten, blieb mir dieser Ort gerade durch den Widerspruch mit der biblischen Assoziation vom gelobten Land im Gedächtnis. Es wimmelt dort von Imbissstuben mit Namen wie "Futtern wie bei Muttern" und von Menschen, die sich unter erbärmlichen Umständen eine Existenz bauen. Ein entsetzlicher Lebenstraum. Ich dachte nur, wie weh das tun muss, so ein Leben. Dann erzählte mir ein Freund, der Strafverteidiger ist, dass es vor Gericht den Ausdruck "retardierter Schmerz" gibt. Wenn zum Beispiel jemand ein Messer in die Rippen bekommt, merkt er das oft erst gar nicht, klappt aber zusammen, wenn er die Wunde sieht. Das fand ich interessant - und sinnbildlich für viele Existenzen.

Die Furche: Auch in "Jerichow" stehen die Figuren im übertragenen Sinne vor Gericht. Was interessiert Sie am Umgang mit Schuld und Selbstverschulden?

Petzold: Besonders in jener Gegend der Prignitz ist zu sehen: Es gibt keine Arbeit, keine Produktion, keine Institutionen mehr. Der Marktplatz in der klassisch städtischen Struktur fehlt. Mich interessiert: Werden die Menschen dadurch frei oder müssen sie sich die Institutionen aus sich selber heraus schaffen?

Die Furche: Was ist ihre Antwort?

Petzold: Die Menschen könnten frei sein, wären sie nicht so verseucht.

Die Furche: Wovon verseucht?

Petzold: Seit 30 Jahren heißt es: "Bau dir deine eigene Welt." Die Werbung richtet sich immer an den Mikrokosmos, nie an eine Gesamtgesellschaft. Das Glück ist: Tolles Haus, toller Pool, hohe Mauer. Mich interessiert der Moment, in dem die Menschen ihre Mauern verlassen müssen und in die Gesellschaft treten - und nur noch Unsinn bauen. Weil diese abgeschlossenen Welten einen eben nicht auf das Leben vorbereiten, sondern auf den Tod.

Die Furche: Wie kann man einem "entsetzlichem Lebenstraum" entkommen?

Petzold: Was die Prignitz - und wie sie viele andere Orte - durchzieht, ist der Gedanke: Entweder man wünscht etwas ganz Großes und ist weg, oder man ist ein Nichts und bleibt dort.

(Interview: Alexandra Zawia)

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