Die Schönheit im Unscheinbaren

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Jetzt ist wieder die Zeit der Rosskastanien. Unter den Bäumen liegen die aufgeplatzten Früchte. Nur kurz bleibt die Frische der braunen Haut, die kühle Samtigkeit ihrer Oberfläche. Doch am schönsten sind die ganzen Früchte, wenn sich die hellgrüne stachelige Hülle ein bisschen öffnet und den Blick freigibt auf dunkle Geheimnisse im Inneren. Als würde der Baum in den Früchten seine Augen aufschlagen. Als würde er mich in den Früchten anschauen, wunderschön und still. Ein tiefer Blick aus braunen Augen. Nur für kurze Zeit. Bald schon sind die Schalen ausgedörrt, die Kastanien stumpf.

Keine Vorräte, keine Rücklagen

Wer die Schönheit liebt, wird sich heute damit vertraut machen, dass sie nur kurz in Erscheinung tritt. Sie muss erbeten werden wie das tägliche Brot. Doch auch das wird im Vaterunser nur für heute erbeten. Gegeben wird nur das, was ich heute brauche. Keine Vorräte für morgen, keine Rücklagen. Die Schönheit wird mir nur für heute geschenkt, nur für einen kurzen Moment leuchtet sie mir auf.

Und noch etwas: Wer die Schönheit liebt, wird sich heute damit vertraut machen, dass sie im Unscheinbaren zu entdecken ist. Sicherlich gibt es die Schönheit des öffentlichen Blicks, die von Medien und breiter Anerkennung gefeierte Schönheit, die Schönheit des immer Gleichen. Doch es gibt auch die andere Schönheit. Sie macht die Welt zur Fremde, die immer neue Wunder zum Vorschein bringt. Wo alles bekannt und gewöhnlich schien, schlägt sie unvermutet die Augen auf.

Für die Politik, für die Wirtschaft, für die Kultur, für die Religionen scheint das alles irrelevant. Die Verantwortlichen dieser Bereiche sind mit anderen Dingen befasst. Offenbar weiß niemand, wie es weitergehen wird. Aber vielleicht ist es gerade deshalb jetzt wichtig, die Schönheit zu lieben.

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien.

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