Die Seele bebt, die Erde bebt

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Wie man in Lyon ein Algerier bleibt - oder auch nicht.

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Wie man in Lyon ein Algerier bleibt - oder auch nicht.

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Die "Zenzela" (ein arabisches Wort für Erdbeben) bestimmt als beschleunigendes Moment der Handlung die Geschicke der Menschen im gleichnamigen Roman von Azouz Begag. Zuerst das innere, durch die kulturelle Zerrissenheit der Hauptperson Farid Belgacem ausgelöste Erdbeben - als Sohn algerischer Einwanderer aus dem Maghreb lebt der junge Mann in Lyon. Dann die Zenzela, die der Jugendliche in einem Traum vorhersieht und die tatsächlich eine ganze Stadt in Algerien zerstört. Zuletzt stürzt das mühsam von den Eltern Ersparte, noch nicht einmal ganz fertige Haus in Setif, einer algerischen Stadt, durch ein weiteres Erdbeben zusammen.

Azouz Begag ist einer der profiliertesten franko-maghrebinischen Autoren. Seine einfache und eigenwillige Sprache - vielfacher Zeitwechsel kennzeichnet sie - macht den Roman kraftvoll und interessant. Mit abwechselnden, tagebuchartigen Beschreibungen von Farids Leben in Frankreich und seinen Ferienerlebnissen in Algerien führt Begag den Leser rasch in die Handlung ein: "Setif. Diese Schiffsnamen wärmten mir das Herz: Kairouan, Ville d'Oran, Tassili ... Jeden August kam Jubel in unserer Familie auf: Diese vornehmen weißen Schiffe brachten uns zu uns zurück, dorthin, wo die Einheimischen wie wir aussahen, dunkel und kraushaarig. Ich freute mich, ihr Lächeln wiederzusehen, den starken Dieselgeruch auf dem Gehsteig zu riechen, ich freute mich auf die unerträgliche Hitze, die Wartezeit auf dem Bahnhof von Algier, wo wir den Zug nach Setif nahmen. Man brauchte beinahe vierzehn Stunden für dreihundert Kilometer! Aber am Ende war mein Haus, da konnte der Zug auch ruhig drei Tage brauchen."

Der Traum, nach einem arbeitsamen Leben in das Haus in Algerien heimkehren zu können, macht das Leben in der Ferne für Farids Eltern einfacher. Überhaupt scheint für seine Umwelt das Leben ganz klar. Die Eltern sehen den einzigen Zweck ihres Aufenthalts in Frankreich darin, Geld zu verdienen. Jesus, sein Freund in Lyon, lebt nach einer einfachen Devise: Wenn man sich etwas wünscht, muß man danach greifen. Sid Ahmed, ein algerischer Seher, sieht in Farid, nach dessen Traum vom Erdbeben, ein seherisches Talent und den idealen Schwiegersohn.

Farid ist durch seine Sensibilität ein besonders symphatischer Protagonist. Der junge Mann ist oft unentschlossen, hin- und hergerissen zwischen den Hoffnungen, die seine Eltern in ihn setzen und seinen grenzenlosen Phantasien und Sehnsüchten. Er ist in eine Französin verliebt, die im Haus gegenüber wohnt. Zu schüchtern, um sie anzusprechen, begnügt er sich damit, sie immer nur durch das Fenster zu beobachten: "Das Mädchen von gegenüber hieß Anna. Ich konnte meiner Mutter nicht gestehen, daß sich diese Einheimische in mein Herz gestohlen hatte. Sie hätte erwidert: Sie ist nicht wie wir. Oder: Wozu bauen wir dort drüben die Stätte unserer Rückkehr, wenn du dich hier festlegst? Ich war bereits eine Geisel des Hauses in Setif, wo es doch erst im Entstehen war."

Die Spannung zwischen der starken, aber auch beengenden maghrebinischen Tradition und den Grenzen, die das Leben in einem gesichtslosen Wohnturm eines Lyoner Vororts einem Jugendlichen setzt, prägt die Geschichte. Als Farid soweit ist, sich dem von seinen Eltern für ihn geplanten Leben zu ergeben und Sid Ahmeds Tochter zu heiraten, stürzt das Haus in Setif ein. Das Ereignis gibt ihm die Kraft, selbständig zu handeln, doch das Schicksal wird ihn noch oft auf die Probe stellen: "Während ich die Stiegen hinunterstürzte, sah ich das Haus von Setif, das sich von mir entfernte, bis es völlig verschwunden war. Je schneller ich lief, umso schneller wurde es von der Erde verschlungen, dort drüben, jenseits der Lyoner Berge. Ich stieß mein Lieblings-Yeaahh aus, ich würde Anna hier für mich gewinnen und sie in die Arme schließen, bevor sie allein auf ihren Balkon zurückkehrte. Ich bin wie ein Wirbelwind hinausgerannt, bin um das Wohnhaus gelaufen und habe sie wiedergefunden, sie war noch immer da, noch warm. Aber was sie da mit Jesus machte, davon will ich schon nicht mehr sprechen. Ich würde einfach die Festplatte löschen, vergessen, falls ich es übers Herz brachte, und eine neue Lebensdatei öffnen."

Zenzela Roman von Azouz Begag Aus dem Französischen von Natalie Freund, Picus Verlag, Wien 1998, 176 Seiten, geb., öS 248,

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