Einen Stein auf ihr Grab

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"Meine Mutter hat gesagt: Hitler kommt und geht, aber die deutsche Kultur bleibt. Und so habe ich mein Abitur am deutschen Gymnasium gemacht." So hat mir die litauische Jüdin Ina Meiksinaite erklärt, warum sie so viel Goethe auswendig konnte. Vor über 20 Jahren war ich ihr Kollege an der Universität Vilnius, 2002 habe ich mit ihr ein ORF-Menschenbild gestaltet. Ausgebildet im jungen Staat nach dem Ersten Weltkrieg, vor den Nazis in russische Dörfer geflohen, in Leningrad studiert und nach Litauen zurückgekehrt, hat sie dort Generationen von Germanisten ausgebildet. Und war eine von den etwa 15.000 Jüdinnen und Juden, die überlebt haben - von über 200.000.

"Ich habe mich an das Gefühl gewöhnt, dass man niemals sicher ist", sagte mir Ina Meiksinaite, die mehr als ihr halbes Leben in der Sowjetunion gelebt hat. Doch ihre Wohnung war eine Welt: eine Stickerei russischer Leibeigener, Adam und Eva auf altem deutschen Silber, ein Gemälde von St. Petersburg und eine Urkunde der New York Academy of Science hingen an der Wand. Sie war eine Germanistin von internationalem Format und für viele Studentinnen ein Fenster zur Welt in finsteren Zeiten. Und sprach stundenlang deutsch, als wäre es ihre Muttersprache. Erst nach der Unabhängigkeit Litauens konnte sie mit siebzig ihre Halbgeschwister in Argentinien und die Verwandten ihrer Schwester in Israel besuchen.

Weil wir wenig wissen von der Ermordung der Juden in Osteuropa und von ihrem seltenen Überleben, weil wir so leicht "Osteuropa" sagen oder "Reformstaaten", als hätten wir den Überblick, weil wir so selten jenen Menschen begegnen, denen die von uns erträumte Multikulturalität lebenslang selbstverständlich war, möchte ich hier an Ina Meiksinaite erinnern. Und weil sie, auffallend klein von Statur, eine große Frau war. Am Wochenende wurde sie in Vilnius begraben.

cornelius.hell@furche.at

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