Einsicht, die Altes neu werden lässt

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Thema: Befreiungstheologie

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Thema: Befreiungstheologie

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Im Jahr 1988 ging ich einmal in Mexiko in einen Buchladen, um nach Befreiungstheologie zu fragen. Die Buchhändlerin schaute mich erst verständnislos an und kramte dann ein dünnes Heftchen hervor: „Como se hace una communidad ecclesial de base“. Darin ist beschrieben, wie Gemeinden gefördert werden können, die sich nicht um Klerus und Sakramente, sondern um realistische Selbstwahrnehmung, gemeinsame Bibellektüre und gegenseitige Hilfe bilden. – Mir scheint, die gewichtigen Bände, in denen es den 68-ern verschiedenster Couleur vor allem um die Frage ging, wie nahe die Theologie dem Marxismus kommen darf, wurden vor allem in Europa und Nordamerika gelesen, gehandelt und zum Teil auch geschrieben. Die Mitte der Befreiungstheologie war immer die Basisgemeinde.

Im voralpinen Dreihundertseelendorf versammelten wir uns in der Pfarrhausstube zum Bibellesen. Alle brachten ihre eigenen Bibeln mit, und in jeder stand etwas anderes: „Christus hat uns befreit; er will, dass wir auch frei bleiben …“ „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Steht also fest …“ „Zur Freiheit hat uns der Messias befreit, steht also aufrecht …“ (Gal 5,1) Messias? Christus? Fest, frei oder aufrecht? Es kann zwar durchaus von Vorteil sein, wenn eine Griechisch gelernt hat. Aber auch ohne Wissenschaft entsteht in Auseinander- und Zusammensetzung Einsicht, die Altes neu werden lässt und Unterdrücktes befreit. Das ist Befreiungstheologie, egal wann und wo.

Wie wäre es, wenn wir, Christinnen, Jüdinnen, Muslimas und andere, uns zusammensetzten, um unsere Heiligen Schriften noch einmal von vorne zu lesen? Ohne dass uns gelehrte Herren schon vorher mitteilen, was angeblich immer schon in den dicken Büchern stand? Das wäre die intervitale Befreiungstheologie, die wir heute brauchen.

* Die Autorin ist Germanistin und evang. Theologin in der Schweiz.

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