Fragen zu einer Entfremdung

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Freiheit für/von Religion?

Dieser Sommer im Salzkammergut war nicht einfach. Jeden Morgen wartete die österreichische Presse mit einer weiteren Philippika zur rituellen Beschneidung auf. Die Jakobiner der veröffentlichten Vernunft machten sich über ein Thema her, das in Österreich rechtlich gar nicht relevant war. Das Urteil eines Kölner Gerichts erhitzte die Gemüter der Redakteure und selbsternannten Experten, so als ob deutsche Gerichtsurteile seit 1945 irgendwelche rechtliche Folgen in der Zweiten Republik nach sich zögen.

Wie konnte es zu einer so spürbaren Entfremdung zwischen Religion und Gesellschaft kommen? Vor 100 Jahren waren die Bande zwischen katholischer Kirche und Herrscherhaus noch innig. Diese Diagnose trifft auch noch auf die wiedererstandene Republik Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg zu - trotz Kardinal Innitzers zwiespältiger Rolle im Nationalsozialismus. Kardinal König ist es zu danken, dass bis in die Achtzigerjahre Religion eine gewichtige gesellschaftliche Stimme und identitätsstiftende Kraft besaß.

Was muss in den letzten 30 Jahren zertrümmert worden sein an Bindewirkung und Zugehörigkeitsgefühl in großen Teilen der österreichischen Bevölkerung, dass ein gemeinsamer Appell der katholischen und evangelischen Kirchen, der muslimischen Gemeinschaft und des Judentums zu Toleranz gegenüber religiösen Werten und Ritualen hämisch abqualifiziert wird und weithin ungehört verhallen kann?

Unglaubwürdige Bischöfe, Lebensfremdheit der kirchlichen Lehre und lang vertuschter Kindesmissbrauch sind die Grundlage dafür, dass heute Religionsfreiheit weitgehend als Freiheit von der Religion verstanden wird. Die Debatte um die rituelle Beschneidung von Buben macht deutlich: Wir brauchen auch wieder die Freiheit für Religion.

Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin

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