Heilige Räume und heilige Zeiten

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Wer an diesem Samstag in die Synagoge geht, könnte bei der Tora-Lesung denken, dass die Schriftrolle mit einer Bauanleitung von Ikea vertauscht wurde. "Jedes Brett soll durch zwei Zapfen mit dem nächsten verbunden werden", heißt es dort (Ex 26,17). An anderer Stelle ist die Rede von einem Tisch, an dessen Ecken Ringe befestigt werden. "Die Ringe sollen dicht unter der Einfassung die Stangen aufnehmen, mit denen man den Tisch trägt."(Ex 25,14) Der ganze Wochenabschnitt geht so weiter. - Warum?

Nach dem Bundesschluss am Berg Sinai gab Gott den Israeliten die Anleitung zum Bau des "Heiligtums", in dem sich die Bundeslade befand. Dieser transportable Sakralraum war gerade in der Heimatlosigkeit während der Wüstenwanderung wichtig. Später wurde der Tempel in Jerusalem zum Ort der göttlichen Präsenz. Seine Zerstörung im Jahr 70 bedeutete eine fundamentale Neuausrichtung des Judentums. Nach den Worten von Abraham Joshua Heschel, einem wichtigen jüdischen Denker, orientierte sich das Judentum von heiligen Räumen hin zu heiligen Zeiten.

Das Bedürfnis nach besonderen, vom Alltag abgesetzten Räumen und Zeiten spiegelt sich auch in unserem modernen Leben. Manchem ist eine bestimmte Zeit des Tages oder der Woche "heilig". Dabei geht es allerdings oft um säkulare Gewohnheiten, etwa das lange Frühstück am Sonntag oder eine Stunde beim Sport oder in der Sauna. Heschels Hoffnung war es, dass auch moderne Menschen offen für die Erfahrung des Göttlichen bleiben. Er zweifelte nicht an dem Versprechen, das an diesem Sabbat in einer anderen Lesung (1 Kön 6,13) wiederholt wird: "Ich werde inmitten der Israeliten wohnen und mein Volk Israel nicht verlassen." Es ist der Mensch, der die heiligen Räume und Zeiten verlassen hat. Heschels wichtigstes Buch heißt: "Gott sucht den Menschen."

Der Autor ist Wissenschafter am Institut für Jüdische Theologie der Universität Potsdam

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