Jerusalem ist keine Hure

19451960198020002020

Thema: Jerusalem

19451960198020002020

Thema: Jerusalem

Werbung
Werbung
Werbung

"So spricht Gott, der Herr, zu Jerusalem: Nach deiner Herkunft und deiner Geburt bist du aus dem Land der Kanaanäer: dein Vater ist der Amoriter und deine Mutter eine Hetiterin.“ (Ez 16,3)

Dem Eingeständnis des Propheten, dass es vor und unter dem salomonischen Tempel noch etwas anderes gibt, folgen zweiundsechzig Verse Schmährede auf die treulose Stadt-Frau, die es nicht lassen kann, mit Fremden zu huren. Welche "abscheulichen Mistgötzen“ (Ez 16,36), welche "bunt gemusterten Kulthöhen“ (Ez 16, 16), welche "Gräuel“ befinden sich denn unter den Bauwerken der drei großen Monotheismen? Ein Sonnenheiligtum? Ein Tempel des Sturm- und Wettergottes Baal? Ein Kultort der Fruchtbarkeits- und Liebesgöttin Ashera? Bis heute wissen die Archäolog(inn)en keine klare Antwort auf diese Frage.

Ich aber saß am Morgen des 1. Juli um halb sechs Uhr auf dem Dach des melkitischen Pilgerhauses und sah die Sonne über dem patriarchalen Durcheinander aufgehen. Dieser Moment war die Ruhe selbst. Denn schon vor 2000 Jahren ist die Sonne so über Jerusalem aufgegangen, und vor 4000 und vor 6000 Jahren. Ohne Sonne, ohne Sturm, ohne Regen und Jahreszeiten, ohne Sex, ohne Mütter, ohne natürliche Matrix wären wir nicht da. Und wären wir nicht da, so könnten wir nicht streiten.

Wir müssen nicht zum "Heidentum“ zurückkehren, um diese schlichte Wahrheit wiederzuentdecken. Aber ich danke dem Altorientalisten Thomas Staubli, der mich im Frühsommer des Jahres 2012 durch Jerusalem geführt hat, für den Mut, die vermeintlichen Gräuel anzunehmen als das, was sie sind: die Grundlage, auf die sich geschichtet hat, was uns bis heute in - scheinbar - hoffnungslosen Streit verstrickt. Nein, Jerusalem ist keine Hure, wenn sie ihre hetitische Mutter und ihren amoritischen Vater in Ehren hält.

* Der Autor ist Schriftstellerin und evang.Theologin in der Schweiz

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung