Karl Marx und die "Spezialisten des Alltags"

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Mit "Das Kapital, Erster Band" bringt das Regiekollektiv Rimini Protokoll ein dokumentarisches Theaterstück auf die Bühne, das vollständig ohne Schauspieler auskommt. Experten spielen jeweils sich selbst, der Zuschauerraum wird zum Auditorium, in dem gemeinschaftlich die Volksausgabe des Marx-Klassikers gelesen und bearbeitet wird.

"Brauchen Sie diese Hose wirklich?" So stellt sich Thomas Kuczynski, Wirtschaftshistoriker in der ehemaligen DDR, die Beratung des Verkaufspersonals vor, als er nach seinen Vorstellungen eines idealen Warenhauses gefragt wird.

Über Ware und den Begriff des relativen Mehrwerts wird an diesem Abend noch viel gesprochen, gesungen und (auszugsweise) gelesen, wobei man laut Kuczynskis Berechnungen seriöserweise zumindest eine Stunde pro Buchseite benötigen würde.

Der Zuschauerraum wird phasenweise zum Auditorium; Bände der blauen "Kapital"-Volksausgabe werden zur gemeinsamen Lektüre verteilt, zwischendurch das Saallicht aufgedreht und gearbeitet.

Das Regiekollektiv Rimini Protokoll hat sich in seinem Projekt "Das Kapital, Erster Band" intensiv mit Karl Marx beschäftigt und acht Personen für die Realisierung eingeladen. Wie immer sind in Riminis dokumentarischem Theater keine Schauspieler zu sehen, sondern Experten und "Spezialisten des Alltags". Alle acht Personen spielen ihre eigene Rolle; alle weisen in ihren Lebenszusammenhängen einen Bezug zu Marx auf.

Linke Biografien

Etwa Jochen Noth, heute erfolgreicher Unternehmensberater mit Büros in Peking, der in seiner linksbewegten Vergangenheit politische Aktionen, wie die öffentliche Verbrennung von Geldscheinen, initiierte. Filmaufnahmen aus den 60er Jahren dokumentieren seine Berichte per Monitor. Franziska Zwerg erzählt von Kindheit und Jugend in der DDR und stellt die Schallplatte "Frösi" vor - Fröhlich sein und singen und den Arbeitstag gut nutzen, so sahen die Kinderlieder ihrer sozialistischen Erziehung aus. Zwerg ist heute Russisch-Dolmetscherin und setzt diese Fähigkeit auch für Rimini ein, indem sie den anwesenden lettischen Filmregisseur Talivaldis Margevics übersetzt. Er erzählt, wie seine Mutter mit ihm nach Russland auswanderte, über die lebensbedrohlichen Bedingungen und wie ein polnische Frau ihn als Kleinkind seiner Mutter abkaufen wollte. "Also war auch ich schon einmal Ware", schließt er seinen Bericht. Durch den Abend moderiert Christian Spremberg, er ist blind und liest aus der "Kapital"-Ausgabe in Brailleschrift. Dazwischen stellt er einen Teil seiner 25.000 Stück fassenden Schallplattensammlung vor - in erster Linie Schlager, die das Wirtschaftswunder der deutschen Nachkriegszeit besingen. Darunter "Bei uns wird's Geld nicht schimmlig" oder Johnny Cash, auf Deutsch: Hansi Bargeld. Auch die anderen, ein Elektroniker, der sein gesamtes Geld verspielt hat, ein junger Kommunist sowie der Autor Ulf Mailänder, der die Biografie des Hochstaplers und Anlageberaters Jürgen Harksen verfasst hat, kreisen um das Gespenst des angeschlagenen Kapitalismus. Inmitten der privaten Atmosphäre einer Bibliothek, bestehend aus verschiedenen "Kapital"-Ausgaben, Schallplatten und einem Klappbett schließt diese intelligente Performance mit einem der derzeit beliebtesten TV-Formate, Millionenquiz, und der Frage, wo das Kapital 2015 stehen mag.

"Black Tie", eine weitere Arbeit von Rimini Protokoll, wirft anhand der Biografie einer jungen Südkoreanerin, die in Osnabrück aufwuchs, den Blick auf Humangenetik. Zu sehen ab 31.5.

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