Kartenhaus der Gesinnung

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Von Marie von Ebner-Eschenbach, deren 100. Todestag dieser Tage begangen wird, stammt der Aphorismus: "Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft." Angela Merkel hat den Satz in Anne Wills ARD-Talkshow zitiert - als Untermauerung für ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik. "Wir schaffen das." Damit hat sie die Kontrafaktur des Matthäus-Evangeliums, genaugenommen das Credo einer religiösen Skeptikerin, wieder auf das Fundament ihrer eigenen christlichen Überzeugung gestellt, dass es hier für Europa darum gehe, die ständig beschworenen "Werte" des Mitgefühls und der Barmherzigkeit auch einmal zu praktizieren.

Was die Forderung nach tätiger Nächstenliebe betrifft, so ist diese Deutung ganz im Sinne der Erfinderin, die auch geschrieben hat: "Man kann nicht allen helfen! sagt der Engherzige und hilft keinem." Um zu handeln wie Merkel, muss man aber einen Glauben haben. Religiöse, moralische, politische Überzeugungen, zu denen man stehen oder von denen man abfallen kann. Die österreichische Regierung hingegen ist die fleischgewordene Situationselastizität. Ihr Opportunismus bewirkt keinen Gewissenskonflikt, er trifft in der Brust seiner Vertreter auf gähnende Leere. Im September fand es der sozialdemokratische Bundeskanzler noch schick, in der Phalanx der Guten an Merkels Seite zu stehen. Den ungarischen Premier stellte er ins Nazi-Eck, und im Oktober hieß es, Österreich werde ganz sicher keinen Zaun errichten. Bei der ersten steifen Gegenbrise ist das Kartenhaus zusammengefallen. Und dem christlichen Präsidentschaftskandidaten war der Westbahnhof nicht nah genug: Den aus der Ferne Kommenden, meinte er, stünde Nächstenliebe nicht zu. Ebner-Eschenbach hat Luegers Christlich-Sozialen vorgeworfen, unchristlich zu sein. Die standhafte Pastorentochter hätte ihr imponiert.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin

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