Leben gelingt auch ohne Atomstrom

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Vor 100 Jahren war mein Vater acht Jahre alt. Autos, Kühlschränke, Straßenbahnen und Telefonapparate waren noch eine Seltenheit. Ich glaube, mein Vater hatte alles in allem eine glückliche Kindheit. Wer erzählt uns da eigentlich dauernd, Glück sei nur mit Tiefkühltruhen, Mobiltelefonen, WLAN, Supermärkten und stündlichen Intercityzügen möglich?

Fast 300 Jahre ist es her, seit Johann Sebastian Bach die Matthäus- passion komponiert hat. Er hat sie ohne Computer geschrieben, in einer wahrscheinlich nicht besonders behaglich geheizten Wohnung. Es gab noch keine Wasserklosetts, keinen Elektroherd, keinen Staubsauger und keine Dusche, weshalb seine Frau vermutlich mehr zu tun hatte als Hausarbeiterinnen heutzutage. Trotzdem: Wer setzt eigentlich diesen Blödsinn in die Welt, menschliche Leistungen seien nur mit Kopiergeräten, E-Mails, Smartphones, Klimaanlagen, Flugzeugen und Fernurlauben möglich?

Vor ungefähr 200 Jahren lebte am östlichen Rand des Mittelmeers Jesus von Nazaret. Von Beruf war er Zimmermann, aber elektrische Sägen und Bohrer gab es noch nicht. Jesus verließ sein Dorf und zog mit einer Gruppe von Männern und Frauen durchs gebirgige Land Palästina, um zu predigen und zu heilen. Zu Fuß. Wasserdichte Wanderschuhe mit Fußstütze, Polyurethan-Zwischensohle und atmungsaktiver Klimamembran besaß er nicht. Wer wollte im Ernst behaupten, gute Gedanken über ein heiles menschliches Leben könne man nur in klimatisierten Büros mithilfe der neuesten Statistiken, Trendforschungen und Hochrechnungen entwickeln?

Vielleicht könnten fromme, also weiter blickende Leute wieder einmal laut sagen, was wir längst wissen, aber gern verdrängen: Gutes menschliches Zusammenleben geht auch ohne Atomstrom. Das ist bewiesen.

* Die Autor ist Germanistin und evang. Theologin in der Schweiz

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