Liebeserklärung im Alter

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Keine zehn Sekunden benötigt Andreas Dresen, um den Zuschauer zu packen und in die Welt seines Films „Wolke 9“ zu versetzen. Hautnah ist die Kamera dran, wenn die 65-jährige Schneiderin Inge (Ursula Werner) eine Hose näht, mit dieser mit der Straßenbahn in einen anderen Stadtteil fährt und einen Wohnblock betritt. Erst als sie dem 76-jährigen Karl (Horst Westphal) das Kleidungsstück übergibt, fallen Worte. Als Karl beim Anprobieren der Hose plötzlich über Inges Haar streicht, ist es um ihre Beherrschung geschehen und sie fallen förmlich über einander her. Auch in der folgenden Sexszene bleibt die Kamera nah dran. Nichts wird geschönt, jede Pore und jede Falte und jeden Hautfleck der alten Körper sieht man, aber Dresen stellt seine Protagonisten nie aus. Ein einmaliges Abenteuer soll das für Inge, die in einer intakten Ehe mit Werner (Horst Rehberg) lebt, bleiben, doch das Verlangen nach und bald auch die Liebe zu Karl sind größer, gleichzeitig quälen sie aber zunehmend Schuldgefühle.

Von nichts anderem als von dieser Liebe und ihren Folgen für die drei ganz durchschnittlichen Berliner um die 70 erzählt Andreas Dresen, inszeniert das aber mit einer Einfachheit und einer Konzentration, die einem den Atem stocken lässt. Gesprochen wird nur wenig, auf Musik wird im Gegensatz zur beschwingten Dramödie „Sommer vorm Balkon“, Dresens letztem Film, verzichtet. Ohne starres Drehbuch wurde gearbeitet. Die Schauspieler durften Szenen und Dialoge weitgehend improvisieren. Was dabei herausgekommen ist, ist in seiner Ungekünsteltheit und Echtheit ebenso phänomenal wie die Art, in der Dresen Gesichter und Gesten mit seinem quasidokumentarischen Blick einfängt. Dominieren in den Szenen zwischen Karl und Inge ganz nahe Einstellungen, die die Vertrautheit vermitteln, so herrschen in den Passagen zwischen Werner und Inge lange statische Halbtotalen vor, die zudem oft durch Türrahmen gefilmt sind. So wird auch durch die formale Gestaltung der Stillstand im Eheleben und Inges Gefühl des Eingesperrtseins vermittelt.

Keine Kulissen und keine aufgeladene spektakuläre Geschichte gibt es hier. Ganz im Alltag verankert ist „Wolke 9“. Dresen beantwortet die Frage, ob man sich denn im Alter nochmals verlieben dürfe, mit einem entschiedenen „Ja“ und lässt mit der Frühlingsstimmung Inge förmlich aufblühen, zeigt aber auch, dass das Glück der einen unweigerlich den Schmerz und die Tragödie des Dritten auslöst. (Walter Gasperi)

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